Diesmal war es höhere Gewalt. Rabbiner András Schönberger betrachtet die Schäden an seiner Synagoge. Vergangene Nacht ist ein Unwetter über die Stadt hinweggefegt, Hagelkörner groß wie Hühnereier erschlugen Tauben und durchlöcherten Fenster, auch an der Synagoge. Jetzt am Morgen strahlt der Himmel über der Stadt. »Das zahlt die Versicherung«, sagt der Rabbiner und streicht sich über den Bart.
András Schönberger lebt in Pecs, einer Stadt mit rund 150.000 Einwohnern in Südungarn. Im Mai hatte der 52-Jährige schon einmal den gleichen Versicherungsfall: eingeschlagene Synagogenfenster. Damals waren es Menschen, die gezielt Steine geworfen hatten. Die Polizei ermittelte, fand kei- nen Täter, antisemitische Motive schließt sie aus. »Auch ich glaube nicht, dass es Antisemitismus war«, sagt Schönberger lächelnd. Die Täter hätten die Fenster als Ziel genommen, weil sie eine Herausforderung suchten. Ein frommer Wunsch?
kulturhauptstadt Pecs, reizvoll am Fuße des Meczekgebirges gelegen, soll nächstes Jahr gemeinsam mit Essen und Istanbul Kulturhauptstadt Europas werden. Ein Programmschwerpunkt sind die Minderheiten in der Stadt. Früher hätten sich hier »türkische, deutsche, kroatische und ungarische Kulturschichten überlagert«, wirbt eine Tourismusbroschüre. Dass es eine Zeit gab, in der ein Zehntel der Bewohner Juden waren, steht auf keinem Faltblatt. Fragt man Tamás Szalay, den Kulturhauptstadtmanager, ob die jüdische Minderheit ins Programm einbezogen werde, sagt er knapp: »Es gibt keine Gemeinde.« Aber in der Stadt amtiert doch ein Rabbiner! Szalay kontert: »Wie soll man die Gemeinde einbeziehen? Es gibt keine jüdischen Musiker, keine Gastronomie, nichts.«
Kaum zehn Minuten von Szalays Büro entfernt sitzt Rabbiner Schönberger im Haus der jüdischen Gemeinde an der Fürdöstraße. Wer ihn besucht, geht an Reklameständern für Textilien vorbei. Die Gemeinde ist arm, einen Teil des Hauses hat sie an ein Bekleidungsgeschäft und einen Laden für Hörgeräte vermietet. Seit dem Holocaust sind die Juden von Pecs eine kleine Schar, nur 120 Leute, die meisten von ihnen hochbetagt. Rund 30 kommen am Schabbat zum Beten. »Damit es weniger traurig ist, treffen wir uns im Gemeindehaus und nicht in der großen Synagoge«, sagt Schönberger. Wer das Gebäude übersehen will, muss sich schon wegdrehen, so mächtig erhebt es sich über den Kossut-Platz. Der ist zurzeit eine Baustelle. Lärmend schieben Bagger Sand zur Seite, Kräne heben Betonteile durch die Luft. Demnächst soll hier ein unterirdisches Parkhaus öffnen.
wahlen Steigt man die Stufen zur Synagoge hinauf, sieht man im Eingang einen alten Mann sitzen. Hin und wieder passiert es, dass er einschläft. Dann muss der Besucher sich räuspern, um ihn zu wecken. »Ich bin ein armer Mann und lebe für die Gemeinde«, sagt Bela Kreiser. Über alles könne man mit ihm reden, aber bitte nicht über Politik.
Doch gerade die ist dieser Tage ein großes Thema. Das ungarische Wahlergebnis zum Europaparlament Anfang Juni hat international Aufsehen erregt: Die rechtsextreme Partei Jobbik (deutsch: »die Rechten«, »die Besseren«) bekam fast 15 Prozent der Stimmen. Viele Ungarn hat das Ergebnis erschreckt, doch dass es so kommen würde, war vorhersehbar. Seit 20 Jahren wird das Land von der Globalisierung überrannt, der Staat steht vor dem Bankrott. Wenn Jobbik heute mit dem Slogan »Ungarn den Ungarn« in den Wahlkampf zieht, heißt das: Weg mit allem, was fremd ist und global, zigeunerhaft, jüdisch, amerikanisch.
garde Vor zwei Jahren hat Jobbik eine paramilitärische Organisation gegründet, die Ungarische Garde. Viele Beobachter vergleichen sie mit den Pfeilkreuzlern, die 1944/45 maßgeblich an der Deportation der ungarischen Juden beteiligt waren. In schwarzen Uniformen marschieren die Gardisten durch Dörfer und Städte. Sie wollen über »Ruhe und Ordnung« wachen und »kriminelle Zigeuner« das Fürchten lehren.
Wer durch die schöne Királystraße bummelt, einen Fußgängerboulevard mitten im Stadtzentrum von Pecs, dem konnte es bis vor Kurzem passieren, dass er auf 30 uniformierte Gardisten stieß, die mit finsteren Mienen durch die Stadt zogen. Vor allem die rund 600.000 Roma im Land hat die Truppe in Angst und Schrecken versetzt. Die meisten Roma haben keinen Beruf erlernt, für viele gibt es keine Jobs. Und mit der Arbeitslosigkeit kommt die Kriminalität, die so weit geht, dass sich in einige Orte die Polizei nicht mehr hineintraut. So ruft mancher Bürgermeister die Garde. Inzwischen, hört man, haben die Roma in etlichen Gegenden Selbstschutzorganisationen gegründet.
spuk Vergangenen Donnerstag hat ein Budapester Gericht dem Spuk ein Ende gemacht und die Garde aufgelöst. Jobbik-Chef Gabor Vona lehnt das Urteil ab. Es widerspreche »dem Gerechtigkeitsempfinden der ungarischen Gesellschaft«, sagt er und droht mit »unabsehbaren Konsequenzen«. Was Vona meint, sah man am Samstag in Budapest. Am Rande des ehemaligen jüdischen Ghettos demonstrierten rund 2.000 Gardisten gegen das Verbot und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Das rechte Lager bereitet sich auf die Machtübernahme vor. Kommendes Jahr im Mai ist in Ungarn Parlamentswahl. Die rechtskonservative Volkspartei Fidesz liegt in Meinungsumfragen derzeit deutlich über 50 Prozent. Wenn heute Wahlen wären, käme sie gemeinsam mit Jobbik auf mehr als zwei Drittel der Stimmen. Die Rechte könnte dann nicht nur die Regierung stellen, sondern auch die Verfassung ändern. Für Roma und Juden ein Albtraum.
angst Unterhält man sich in Deutschland mit Kennern der jüdischen Gemeinde Ungarns, hört man oft: »Die haben Angst.« Man sage ihnen nach, das Ausland gegen Ungarn aufzuhetzen, deshalb fühlten sie sich zur Loyalität gezwungen oder würden schweigen. Die Furcht kommt nicht von ungefähr. Als im April die Schriftsteller Péter Esterházy und Péter Nádas der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erzählten, dass die Stimmung im Land sie an die 30er-Jahre erinnere, der Rechtsradikalismus stark zunehme und es keine Kontrolle über die Parteien gäbe, wurden sie als »Landesverräter« beschimpft. Ein Wort, das immer mehr Ungarn immer leichter über die Lippen kommt.
Kein Wunder, dass im Pecser Kulturhauptstadtprogramm für Juden kein Platz ist. »Das Thema tut mir weh«, sagt Rabbiner Schönberger. 2009, das Jahr der Vorbereitung auf das große Ereignis, steht im Zeichen der Religionen. Minderheiten und Religionen – das Thema wäre wie zugeschnitten für die jüdische Gemeinde. »Wir haben gemeinsam mit anderen konfessionellen Gruppen das Gespräch mit der Stadt gesucht und lange verhandelt«, sagt Schönberger. Doch das Ergebnis ist ernüchternd: Weil die Stadt nur eine geringe Summe bereitstellte und das Bistum Pecs in diesem Jahr sein 1000-jähriges Bestehen feiert, hat die jüdische Gemeinde mit den kleineren christlichen Religionsgemeinschaften zugunsten der Katholiken auf ihren Teil verzichtet. Die sind die stärkste religiöse Kraft in Ungarn. Ob sie sich in politisch harten Zeiten dafür erkenntlich zeigen werden?