von Chajm Guski
Mitten im Winter, das weiß in Europa je-
des Kind, wird es spät hell und recht früh dunkel. Es mag banal klingen, aber dies hat natürlich auch Auswirkungen auf das Leben derjenigen Juden, die sich nach den halachischen Zeitvorgaben richten. Die prominentesten Beispiele dafür sind der Schabbateingang und der Schabbatausgang. Der wöchentliche Feiertag begann am vergangenen Freitag – also kurz vor dem 21. Dezember, dem Tag mit der längsten Nacht und dem kürzesten Tag – in Berlin bereits um 15.31 Uhr und endete um 16.55 Uhr am Samstag.
Außerhalb Israels und in einer Arbeitswelt, die sich nicht nach dem Rhythmus der Natur richtet, werden Juden im Winter vor besondere Herausforderungen ge-
stellt. Von der Verlängerung des Arbeitstages »über die Grenzen des natürlichen Ta-
ges in die Nacht hinein« wusste schon Karl Marx in seinem Kapital zu berichten. Und so endet nicht jeder Arbeitstag am Freitag unbedingt mit Sonnenuntergang. Dienstantritt im Büro, in der Fabrik, in der Praxis oder einem anderen Betrieb ist häufig, wenn es entweder draußen noch dunkel ist, oder gerade die Sonne aufgegangen ist. Man bricht also in der Dunkelheit auf. Da-
bei sagt die Halacha, es sei besonders verdienstvoll, das Schma Jisrael des Morgengebets vor Sonnenaufgang zu sprechen und die Schmoneh Essre (das Achtzehngebet) nach Sonnenaufgang, wenn der Horizont schon erleuchtet ist. Die für das Morgengebet notwendigen Tefillin (Gebetsriemen) dürfen dagegen erst getragen werden, wenn ein wenig Licht vorhanden ist.
Moderne Softwarekalender erlauben die Berechnung aller halachischen Zeiten auf Mobiltelefonen oder dem heimischen Rechner. Das kostenlose Programm »Kaluach« zum Beispiel gibt minutengenau für jeden Ort der Welt die entsprechenden Zeiten an: Beginn des Tages, die späteste Zeit für das Schma, die späteste Zeit für das Morgengebet. Das macht es übersichtlicher, löst je-
doch nicht das Problem des gläubigen Ju-
den, der für die Arbeit in der dunklen Jahreszeit seine Wohnung oder sein Haus verlassen muss. Schlechthin könnte man dies das Winterdilemma nennen.
Die Suche nach einer Lösung gestaltet sich schwieriger als vermutet. Ein angesprochener Rabbiner reagierte mit Schulterzucken und schlug vor, Tefillin und Tallit mit ins Büro zu nehmen. Eine elegante Lösung für flexible Angestellte oder Selbstständige, aber zum Beispiel Fabrikarbeiter werden in der Regel nicht schon morgens eine Pause fürs Gebet einlegen können.
Weiter geht die Suche im Internet. Auf der Seite www.askmoses.com kann man Experten zu allen Themen des jüdischen Lebens befragen – und es wird direkt ge-
antwortet. Auf die entsprechende Frage rät man dort ebenfalls, »Heiligkeit ins Büro zu bringen«, indem man Tallit und Tefillin mit an den Arbeitsplatz nimmt, und dort Gebetsriemen und Schal zum Einsatz zu bringen. Auch diese Option ist nichts für diejenigen, die ihren Schreibtisch nicht verlassen können oder anderswo tätig sind.
Später führt der virtuelle Weg über eine Suchmaschine und viele Umwege zu einem gewissen Rabbiner Burstein aus Cleveland/USA, der zwei praktische Vorschläge für seine Gemeinde formuliert hat. Der erste besteht darin, mit dem Gebet zu beginnen, auch wenn die Zeit noch nicht gekommen ist und dann später, zum »Jischtabach« Tallit und Tefillin anzulegen. Der andere Vorschlag sieht vor, beide schon anzulegen, allerdings den entsprechenden Segensspruch nicht zu sagen, sondern erst später, wenn die Zeit dafür gekommen ist – wieder kurz nach dem Ge-
bet »Jischtabach«. Mit anderen Worten: Der Spielraum ist nicht groß, aber zumindest gibt es ihn.
Für den Beginn des Schabbats natürlich nicht. Hier müssen observante Arbeitnehmer im Idealfall nach Arbeitszeitmodellen suchen, die es ihnen erlauben, am Freitag früher das Büro zu verlassen und dafür unter der Woche länger zu bleiben.
Was ist mit Gegenden, in denen sich Sommer und Winter noch extremer auswirken, als in unseren Breitengraden? Welche halachischen Zeiten gelten dort? Am Polarkreis und den arktischen Regionen wird es in der einen Jahreshälfte nicht richtig hell und in der anderen nicht richtig dunkel. Mit dem Stand der Sonne können halachische Zeiten in solchen Extremen also nicht bestimmt werden. Wann beginnt der Schabbat, wenn die Sonne ohnehin nicht am Himmel ist? In Alaska gilt für einige Gegenden, dass man von Freitagmittag bis Samstagmittag Schabbat hält, weil im arktischen Winter die Sonne kurz über den Horizont hinaus schaut und umgehend wieder versinkt. Während der Phase, in der es ständig hell ist, dauert der Schabbat von Freitagmitternacht bis Samstagmitternacht, weil die Sonne dann ihren niedrigsten Stand erreicht. Auf Basis dieser Angaben könnten dann, sofern man darauf Wert legt, auch die anderen halachischen Zeiten errechnet werden.
Anhand dieses Extrembeispiels ist zu er-
kennen, dass das jüdische Religionsgesetz auf Änderungen in der Lebenswelt reagiert. Die Kriterien sind keineswegs statisch. So können Entscheidungen gefällt werden, oh-
ne beliebig zu werden.
In Zukunft werden neue Herausforderungen warten. Wann beginnt der Schabbat für die Bewohner einer Mondbasis? Dort wird ein Monat zwischen den Sonnenaufgängen vergehen. Nur alle sieben Monate Schabbat? Schwierig wird es hier, folgendem Rat des Rabbiners aus dem Internet zu folgen: »Um ganz sicherzugehen, fragen Sie doch Ihren örtlichen Rabbiner.«