von Rabbinerin Gesa Ederberg
Toldot, der Name unserer Parascha, bedeutet übersetzt Genealogie, Geschlechterabfolge. Eigentlich könnte über der ganzen Geschichte, die uns in Bereschit vom Ruf Gottes an Awraham bis zum Tod seines Urenkels Josef in Ägypten berichtet wird, dieser Name stehen: Toldot. Im Grunde sogar über der ganzen Tora, denn letztlich geht es darum, wie sich Juden und Jüdinnen jeder Generation neu mit dem Erbe der vorigen Generationen auseinandersetzen und wie wir heute unsere Verbindung mit Awraham, Jitzchak und Jakow, mit Sara, Riwka, Rachel und Lea und mit Gottes Verheißungen an sie wahrnehmen.
Gott hatte Awraham versprochen, ein großes Volk aus ihm zu machen, also hing alles davon ab, ob er Kinder haben würde. Merkwürdigerweise aber konnte in den ersten beiden Generationen jeweils nur ein Kind Gottes Verheißung erben. Nur Jitzchak oder Jischmael, Jakow oder Esaw konnten Erben sein. In der darauffolgenden Generation aber erben alle Kinder Jakows und begründen die zwölf Stämme Israels.
Als es darum ging, zwischen den beiden Söhnen Awrahams, Jischmael und Jitzchak, zu entscheiden, war das noch recht einfach, schließlich war nur Jitzchak der Sohn Saras, Jischmael hingegen der Sohn ihrer Magd. Viel schwieriger ist die Entscheidung zwischen den Zwillingen Esaw und Jakow, denn sie kann nichts mit der Abstammung zu tun haben.
Was berichtet uns die Tora über Esaw und Jakow? Wie wird begründet, warum der eine Erbe und Nachfolger seiner Eltern wird und sein Bruder nicht? Hierzu lesen wir drei Berichte.
Der erste Bericht spielt während Riwkas Schwangerschaft, als die beiden sich »im Bauch streiten«. Darauf geht sie zu Gott und erkundigt sich, warum diese Schwangerschaft so schwer ist. Gott antwortet nicht direkt auf ihre Frage, stattdessen legt er eine Rangordnung zwischen den noch ungeborenen Kindern fest: Der Ältere wird dem Jüngeren dienen, dies gilt auch für die beiden Völker, die aus den beiden hervorgehen.
Im zweiten Bericht sind die Kinder schon erwachsen. Sie haben sich zu unterschiedlichen Charakteren entwickelt, und beide Eltern haben jeweils einen Lieblingssohn: Jitzchak liebt den kräftigen Jäger Esaw, während Riwka den sanften Jakow liebt, der zu Hause bleibt. Fast beiläufig wird die Szene geschildert, als Esaw hungrig nach Hause kommt und sieht, dass Jakow etwas gekocht hat und zu essen verlangt. Ohne weitere Begründung fordert Jakow von ihm als Gegenleistung das Erstgeburtsrecht, und Esaw verzichtet zugunsten des später sprichwörtlich gewordenen Linsengerichts.
Der dritte Bericht ist der problematischste. Von jeher hat er die rabbinischen Kommentatoren herausgefordert: Jitzchak ist alt geworden und will Esaw, dem Erstgeborenen, seinen Segen geben, doch Riwka hört davon und instruiert Jakow, wie er sich den Segen an Stelle seines Bruders erschleichen kann. Jakow kommt also mit einem leckeren Essen zu Jitzchak und mit Tierfellen über den Armen, damit sein blinder Vater annehme, er sei der behaarte Esaw. Als dieser schließlich kommt, ist der Segen, der für ihn bestimmt war, schon an Jakow vergeben.
Schon in der Tora selbst ist das Unbehagen an Riwkas und Jakows Handlungsweise deutlich zu spüren. Das Ergebnis wird mit der Aussage Gottes an Riwka gerechtfertigt, dass der Ältere dem Jüngeren dienen werde. Völlig ungerechtfertigt aber sind die betrügerischen Mittel, die Jakow dabei einsetzt.
In der jüdischen Tradition wird Esaw zum Stammvater Edoms, eines Nachbarvolkes Israels in biblischer Zeit. Edom gilt als Erzfeind Israels, und sein Name wird auf die späteren Feinde des jüdischen Volkes übertragen. So wird zum Beispiel Rom, das den Zweiten Tempel zerstörte, als »Edom« bezeichnet. Der Midrasch Rabba zu Bereschit sagt, dass die Verfolgung der Juden eine Rache der Nachkommen Esaws sei für den Tag, an dem ihr Vorfahr bitterlich über Jakows Betrug weinte.
Auch Jitzchaks Verhalten ist merkwürdig und weist darauf hin, dass er den Betrug zumindest ahnt: Als Jakow mit dem Essen erscheint, fragt er ihn: »Welcher meiner Söhne bist du?« und berührt ihn dann, um sicherzugehen, den richtigen Sohn vor sich zu haben. Es bleibt im Text offen, warum Jitzchak sich zwar wundert, aber nichts tut, um die Situation zu klären. Die rabbinische Literatur betont die doppelte Blindheit Jitzchaks: Er ist blind gegenüber den Charakterfehlern Esaws, und er ist blind gegenüber Jakows Betrug.
Die Familiengeschichten im ersten Buch der Tora schildern – im Guten wie im Bösen – die Verflechtungen von Kindern und Eltern, von Geschwistern, Vettern und Cousinen. Die Realität der Geschichten gibt uns die Möglichkeit, Verhältnisse besser zu verstehen, die nicht unseren Standardvorstellungen entsprechen. Gerade deshalb spiegeln sie die Lebenswirklichkeit in Familien wider.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.