von Olaf Glöckner
Herbstlaub treibt über Gehweg und Vorgarten. Nahe Lenné-Park und Stadtzentrum hat die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Oder in einem Jugendstilhaus ihr Domizil. Die Anlage wirkt beschaulich und fast ein wenig verschlafen. Im Schritttempo fährt ein Streifenwagen vorbei, am Eingang diskutieren Frauen auf Russisch.
In den oberen Stockwerken ist Betrieb. Vor dem Vorstandsbüro brummt ein Kopiergerät: der neue Gemeinde-Rundbrief soll versendet werden. In einem zweiten Büro sortieren ältere Herren Fotos für eine neue Ausstellung und bereiten »Stolperstein«-Verlegungen mit dem Kölner Bildhauer Gunter Demnig vor.
Über den Flur turnt ein kleines Mädchen. Mit staunenden Augen schaut sie sich die Fotos von Pessach, Sukkot und der Jerusalemer Tempelmauer an. Irgendwann sucht die Kleine Großmutters sichere Hand – denn vom anderen Ende des Korridors nähert sich eine riesige Menschenmenge. »Gäste sind hier keine Seltenheit«, bemerkt Sozialarbeiterin Irina Sheer, die es vor Jahren aus St. Petersburg an die Oder zog. »Es kommen Lehrer, Polizisten, auch Schulklassen und Vereine. Das Interesse ist groß.«
Stolz berichtet der Gemeindevorsitzende Volodymyr Levytskyy, dass es während der vergangenen Jahre eine ganze Reihe von Geburten in der Gemeinde gab: »Das macht uns Hoffnung für unsere Zukunft.« 24 Kinder besuchen die Sonntagsschule, ein Jugendzentrum ist im Aufbau, und Maccabi gewinnt erste Preise bei überregionalen Sportwettkämpfen.
Seit zehn Jahren gibt es wieder organisiertes jüdisches Leben in Frankfurt an der Oder. Davor herrschte 60 Jahre lang die sprichwörtliche Totenstille. Die Nationalsozialisten hatten die vormals hoch angesehene Gemeinde mit prominenten Ärzten, Kaufleuten, Juristen und Künstlern in ihren Reihen fast vollständig ausgelöscht. Nur wenige Juden konnten noch Ende der 30er-Jahre fliehen. Die Spur der meisten anderen verliert sich in den Vernichtungslagern im Osten. Auch aus dem Stadtbild verschwanden die jüdischen Einrichtungen: Die Synagoge in der Wollenweberstraße brannte in der Pogromnacht vom 9. November 1938 aus und wurde später abgerissen. Ebenso erging es dem Jüdischen Krankenhaus. Auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs, der heute im polnischen Ortsteil Slubice liegt, wurde sogar ein Motel gebaut.
Spät entdeckte auch die DDR noch ihr jüdisches Erbe – oder zumindest den Wert von Gedenkveranstaltungen. Am 9. November 1988 enthüllte die Stadtverwaltung einen Gedenkstein am Brunnenplatz, ganz in der Nähe der 50 Jahre zuvor zerstörten Synagoge. Aus England reiste noch einmal der letzte amtierende Frankfurter Gemeinderabbiner Curtis Cassel an, um das Kaddisch zu sprechen. Auch lokale Kirchen, Schülergruppen, der Bund der Antifaschisten und interessierte Bürger kamen zum Gedenken. An einen jüdischen Neubeginn glaubte damals fast niemand.
Doch wenige Jahre später – nach der deutschen Wiedervereinigung – geschieht das Wunder: Dutzende jüdischer Familien kommen aus den Ländern der GUS und gründen eine neue jüdische Gemeinde. Im Sommer 2008 zählt sie mehr als 200 Mitglieder und feiert ihr Jubiläum im Rathaus der Stadt. Die Öffentlichkeit nimmt sie wahr. Die Reaktionen sind wohlwollend.
Vorstandsmitglied Yosyp Vaysblat, ein freundlicher Mann mit melancholischen Gesichtszügen, führt die Gäste vom Kulturbund durch das Haus. Sie fragen ihn: »Wie war das damals, in den 30er-Jahren? Was wissen Sie noch von Überlebenden? Wer ist zurückgekehrt, wer nicht?« Es sind die Fragen, die »Deutschlands neue Juden« immer wieder hören. Doch die Gefragten sind selbst noch auf der Suche nach Antworten. Frankfurts Juden sind zwar bestens vertraut mit den Schicksalsschlägen ihrer Eltern und Großeltern in Charkow, Riga, Kiew oder Donezk. Doch die Pogromnacht 1938 ist für viele von ihnen historisches Neuland. Begriffe wie »Rassengesetze«, »Arisierung«, »Reichskristallnacht«, »Schutzhaft« und »medizinische Experimente« hörten manche Immigranten hier zum ersten Mal. »Es hat Zeit gebraucht, das alles aufzunehmen«, bekennt Volodymyr Levytskyy.
Damit haben die Gäste nicht gerechnet. In ihre Blicke mischen sich Neugier, Nachdenklichkeit, Sympathie. Yosyp Vaysblat schenkt »Babuschka« und Enkelin im Vorbeigehen ein kurzes Lächeln. Dann erzählt er den Gästen, was auch er erst lernen musste. Er spricht über Schicksale von bekannten Persönlichkeiten, Historisches: Frankfurts Gemeinde zählte bei Machtantritt der Nazis fast 500 Juden. »Manche wären längst in Vergessenheit geraten, gäbe es nicht Historiker, Archivare, Wissenschaftler, die uns beim Recherchieren unterstützen«, sagt Vaysblat anerkennend.
Bilder helfen ihm ebenfalls bei seiner Erinnerungsarbeit: Eines der ausgestellten Jugendfotos zeigt Hermann Aronheim nach seiner Emigration nach Palästina, der sich dort Zwi Aharoni nennt. Mit dem israelischen Geheimdienst hat er Eichmann gejagt. Andere Aufnahmen zeigen Frankfurter, die Kibbuzniks, Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer wurden – in Israel, den USA, Südamerika und anderswo. Die allerwenigsten kamen zurück. Doch mit einigen Überlebenden in Israel hat die Gemeinde heute guten Kontakt. Sie erzählen Schulklassen von den einstigen Frankfurter Juden in aller Welt.
So geht die Arbeit an der Vergangenheit weiter – und wie es scheint, sind Juden und Nichtjuden gleichermaßen motiviert, fortzufahren. »Wir haben gemeinsame religiöse Wurzeln«, begründet Pfarrer Uwe Korenke das Engagement des Ökumenischen Ra- tes der Kirchen. »Und wir wollen zeigen, dass uns das damalige Leiden der jüdischen Brüder und Schwestern nicht egal ist.«
Christel Kruse vom Lutherstift, seit 20 Jahren bei jeder Gedenkfeier zur Pogromnacht dabei, spricht von Erinnerung, Verantwortung und Solidarität. Die braucht die Gemeinde dringend und sie bekommt sie, denn auch die Oderstadt hat Erfahrungen mit der rechtsradikalen Szene. Als Jugendliche am 9. November 2006 am Synagogen-Gedenkstein randalierten, verlegte Bürgermeisterin Katja Wolle kurzerhand eine Sit- zung von Schuldirektoren ins jüdische Ge- meindehaus. »Heute kommen mehr Frankfurter zum Pogromnacht-Gedenken als noch vor Jahren«, erzählt Karola Kargot von der Stadtverwaltung. »Es sind auch viele junge Leute dabei.«
Letzte Station für die Gäste ist ein Gedenkzimmer hinter dem Betsaal. Hier finden sie vier Holzmodelle, die Illja Shtrambrand in filigraner Handarbeit gefertigt hat: In Klein sind der Erste und Zweite Je- rusalemer Tempel, die Vorkriegssynagoge und der orientalisch anmutende Kuppelbau der einstigen Friedhofshalle zu sehen.
Macht es den Hobby-Künstler traurig, dass die Vorbilder für seine Modelle nicht mehr existieren? »Ja, schon«, sagt der einstige Buchhalter aus Odessa. »Aber für mich ist diese Arbeit ein Teilhaben an der langen, gemeinsamen Geschichte des jüdischen Volkes. Dass so viele Auswärtige das sehen wollen, stimmt mich eher froh.« Illja Shtrambrand hat im Zweiten Weltkrieg 13 Verwandte verloren, seinen Vater im März 1944 direkt an der deutsch-russischen Front. »Zweimal im Jahr gehe ich zur Kranzniederlegung«, sagt er nachdenklich, »am 9. November und am 8. Mai«.
Draußen fängt es an zu regnen. Ein letztes »Tschüss« geht durch die Runde der Besuchergruppe – und die Beteuerung, dass man gern wiederkommen würde. Auch Großmutter und Enkelin verlassen das Haus. Aufgeregt hüpft die kleine Julia die Treppe hinunter. Zu Hause will sie mit Farbstiften die alte Synagoge malen.