Jacqueline Murekatete, Sie haben als Kind den Völkermord in Ruanda überlebt. Ihre Familie, Verwandte und Freunde sind ums Leben gekommen. Wie gehen Sie mit der Erinnerung daran um?
murekatete: Obwohl ich beim Beginn des Genozids erst neun Jahre alt war, sitzt der Schrecken noch heute, 14 Jahre später, tief in mir. Ich kann noch immer die Ankündigungen von Radio Ruanda hören, dass die Tutsi Kakerlaken seien und den Tod verdienten. Die Implikationen dieser Hasspropaganda verstand ich erst, als mich meine Hutu-Nachbarn nicht mehr grüßten und meine Hutu-Freunde und Klassenkameraden nicht mehr mit mir spielten. Ich kann noch förmlich die Angst sehen, von der meine Familie und alle Tutsis im Dorf kurz vor dem Morden ergriffen wurden. Ich erinnere mich an die Flucht mit meiner Großmutter, an die vielen Situationen, in denen wir mit dem Tod konfrontiert wurden und in denen ich zusehen musste, wie Männer, Frauen und Kinder starben. Es sind schreckliche Bilder, die mich bis an mein Lebensende nicht mehr loslassen werden. Als das Morden vorbei war, erfuhr ich, dass meine Eltern, meine sechs Geschwister und die meisten meiner Verwandten nicht mehr am Leben waren. Die erste Zeit wollte ich nicht wahrhaben, was passiert war. Wenn ich ins Bett ging, hoffte ich, am nächsten Morgen von jemandem aus diesem langen Albtraum geweckt zu werden.
Was empfinden Sie heute gegenüber den Mördern Ihrer Familie?
murekatete: Nach dem Genozid war Ruanda ein Ort, wo Überlebende Tür an Tür mit denen leben mussten, die ihre Familien getötet hatten. Es wird geschätzt, dass sich mindestens zwei Millionen Hutu an der Ermordung der Tutsi beteiligt haben. Und viele, die nicht gemordet hatten, hatten den Flüchtenden jeden Schutz verweigert oder waren auf andere Art indirekt am Töten beteiligt. Ja, ich war wütend und verbittert. Wir Überlebenden wollten Gerechtigkeit. Und ich glaube noch immer, dass die Täter in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Aber ich habe mich entschieden, meine Zeit und Energie nicht mit Hass und Bitterkeit zu vergeuden. Ich konzentriere mich darauf, das Bewusstsein darüber zu verbreiten, was in meinem Land geschehen ist, in der Hoffnung, damit andere Menschen davor bewahren zu können, etwas so Schreckliches selbst erleben zu müssen.
Welche Rolle hat die Hilfe anderer Menschen für Sie gespielt?
murekatete: Nachdem ich so viel verloren hatte, brauchte ich viel Liebe und Unterstützung. Alles, was ich erreicht habe, verdanke ich der Hilfe von Menschen, denen ich seit meiner Flucht begegnet bin. Ich danke Gott, dass er sie alle in mein Leben gebracht hat. Ohne sie wüsste ich nicht, wo ich heute wäre.
Wann und warum haben Sie sich entschieden, gegen Völkermord und Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen?
murekatete: Ich war 16, als ich das erste Mal öffentlich über meine Erlebnisse sprach. Das war, nachdem ich den Holocaust-Überlebenden David Gewirtzman reden gehört hatte. Er hatte unsere Klasse besucht, nachdem wir das Buch »Die Nacht« von Elie Wiesel gelesen hatten, in dem er schildert, wie er als Kind die Schoa erlebte und überlebte. Das hat mich sehr beeindruckt und dazu angeregt, meine eigenen Erfahrungen mit anderen zu teilen. Auf diese Art und Weise möchte ich zu einer Welt ohne Genozide beitra- gen. Seit 2001 bilden David und ich ein Team. Wir haben bereits Hunderte von Vorträgen in Schulen, Kirchen, Synagogen und auf Konferenzen in Amerika und im Ausland gehalten. Wir beide fühlen die Verantwortung, für alle diejenigen zu sprechen, die nicht für sich selbst sprechen können. Was wir beide erlebt haben, ist etwas, das wir nicht einmal unserem schlimmsten Feind wünschen.
Sie haben in den USA, in Israel, Deutschland, Belgien, Bosnien und vor der UNO gesprochen. Ist die Macht des Wortes stärker als die des Hasses?
murekatete: Ich rede über den Genozid in Ruanda und die Bedeutung der Toleranz in einer Welt, in der Hass, Rassismus, Antisemitismus und Völkermord-Ideologien immer noch große Gefahren sind. Schweigen ist für mich keine Option. Ich erhalte viele Briefe von jungen Menschen, die mir von Toleranzprojekten berichten, die sie in ihren Schulen oder Kommunen gegründet haben, nachdem sie mich haben reden hören. Das macht mir Hoffnung und spornt mich an. Ich bin überzeugt, dass Bildung »die beste Waffe gegen den Hass ist«, wie David immer sagt. Und ich werde diese Waffe gebrauchen, so lange sie gebraucht wird.
Der Westen hat nicht einmal versucht, Ruanda in seiner dunkelsten Stunde zu helfen.
murekatete: Als die Tötungen in meinem Land richtig losgingen, glaubten wir alle, dass wir gerettet werden würden, wenn nur das Ausland davon erführe. Wir waren ja keine Kriminellen. Wir wurden nur deshalb getötet, weil wir als Tutsis in einem Land geboren worden waren, das überzeugt war, dass Tutsis es nicht verdient haben zu existieren. Als ich in den USA ankam und erfuhr, dass so viele Länder über Ruanda Bescheid wussten, sich aber dafür entschieden, nichts zu unternehmen, war ich entsetzt. Aber ich wollte dieses Schweigen und diese Gleichgültigkeit nicht hinnehmen und nahm mir vor, sie zu bekämpfen. Ich bin die Stimme all derjenigen, die getötet wurden, weil die internationale Gemeinschaft sich zu handeln weigerte. Deswegen beende ich keinen meiner Vorträge, ohne über die Sünde der Indifferenz inmitten von Unrecht zu sprechen.
Sie sind auch eine laute Stimme gegen den andauernden Völkermord in Darfur. Glauben Sie, dass die Gewalt dort beendet werden kann?
murekatete: Ich bin überzeugt, dass das, was in Darfur geschieht, beendet werden kann, so wie der Genozid in meinem Land hätte beendet werden können. Die internationale Gemeinschaft hat die Mittel dazu. Aber der Wille zum Handeln fehlt. Der Genozid in Ruanda wurde nicht beendet, weil die Weltgemeinschaft Ruanda für unwichtig hielt. Wenn wir nicht begreifen, dass wir unseres »Bruders Hüter« sind, wird der Teufelskreis des Völkermordens weitergehen.
Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat wiederholt gedroht, Israel müsse »von der Landkarte gefegt werden«. Viele Menschen spielen diese Bedrohung herunter. Sehen Sie eine Verbindung zu Ruanda?
murekatete: Ahmadinedschads Drohungen machen deutlich, dass genozidale Ideologien auch im 21. Jahrhundert noch stark und lebendig sind. Ich glaube, dass wir jede Hassrede oder destruktive Ideologie ernst nehmen müssen. Wir müssen dem entgegentre- ten, statt immer den gleichen Fehler wieder zu begehen: ruhig und passiv zu bleiben, bis es zu spät ist.
Das Gespräch führte Michael Holmes.