Fernsehen

»Das Schweigen«

Die preiswürdige Dokumentation des Bayerischen Rundfunk erinnert an die Opfer der Schoa – und sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden

 27.11.2024 14:12 Uhr Aktualisiert

Die Münchner Künstlerin Ilana Lewitan Foto: imago stock&people

Die preiswürdige Dokumentation des Bayerischen Rundfunk erinnert an die Opfer der Schoa – und sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden

 27.11.2024 14:12 Uhr Aktualisiert

Ilana Lewitans Vater, Robert Schmusch, hat mit ihr bis zu seinem Tod nicht über die Vergangenheit gesprochen. Doch 2021 erhält die Tochter plötzlich eine E-Mail, in der sie Folgendes liest:

»Mein Großvater hatte noch drei Überlebende aus der Zeit seiner Tätigkeit im Warschauer Ghetto gefunden, einer davon war Ihr vermutlicher Vater.(….) In einer besonderen Situation hat mein Großvater sogar einhundert Juden das Leben gerettet.«

Die Mail, geschrieben von Norman Baltrusch, dem Enkel eines SS-Untersturmführers. Schon seit Jahren recherchiert er zu den Spuren seines Großvaters Willy Schmidt, der den SS-Fuhrpark im Warschauer Ghetto leitete.

Auf der Suche nach Überlebenden und Zeugen durchforstet der Enkel die Unterlagen der Prozesse, die nach dem Krieg gegen Kriegsverbrecher wie Dr. Ludwig Hahn oder Heinrich Klaustermeyer geführt wurden. Darin entdeckt er die Zeugenaussagen zweier jüdischer Zwangsarbeiter, die ehemals in der Werkstatt von Willy Schmidt eingesetzt wurden: Moses Smulewicz und Robert Schmusch – Ilana Lewitans Vater.

Norman Baltrusch findet die Adresse von Ilana Lewitan, eine Künstlerin, die 1961 in München geboren ist und dort aufwuchs.

Hier beginnt die sensible und klug erzählte Geschichte der Filmemacherin Andrea Roth. Sie begleitet nicht nur das Treffen des Täterenkels mit der Opfertochter, sie nimmt auch teil an beider Annäherung, an den Fragen und Ängsten, den Sehnsüchten, den Wünschen und einem Ende, das weitab allen Versöhnungskitsches und jeder Sentimentalität schlicht passt. 

»Das Schweigen« ist eine wahrhaftige, eine glaubwürdige und außergewöhnliche Dokumentation.

Eines von Ilanas künstlerischen Topoi sind Wälder. In ihrem Atelier zeigt sie Norman ihre großformatigen Ölbilder. Wälder, von denen sie träumt. Wälder, von denen ihr Vater mal erzählt hatte; in denen er sich versteckt hatte.

Doch sonst weiß Ilana fast nichts: Denn Robert Schmusch hatte nie vom Ghetto und der Schoa erzählt. Er hat geschwiegen. Um des Seelenfriedens seiner Familie willen? Sicher. Um seiner eigenen Seele willen? Sicher auch.

Die Deutschen hatten seine Eltern und Geschwister in Treblinka ermordet. Nun, seit dem Kontakt mit Norman, will Ilana um alles in der Welt begreifen, welch erlittenes Leid ihren Vater umtrieb, sie möchte sich dem transgenerationellen persönlichen Trauma stellen, das bis in ihr künstlerisches Schaffen hineinreicht. 

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Auch Normans Großvater Willy, nach dem Krieg wieder bei der Polizei, hat geschwiegen. »Er war liebevoll, ein guter Opa, aber streng«, erinnert sich Norman. Aus dem Krieg erzählte er lange nichts, erst nach dem Drängen des damals noch jungen Enkels öffnet er sich langsam.

1941-1944, so erfährt Norman von ihm und aus den Unterlagen verschiedener Prozesse, in denen sein Großvater als Zeuge auftrat, war dieser [Anm. der Redaktion: Gemeint ist Ludwig Hahn] Obersturmbannführer in Warschau. Sein Chef: Dr. Ludwig Hahn, der 300.00 Warschauer Juden in Treblinka ermorden ließ.

Heinrich Klaustermeyer, ein fanatischer Judenhasser und Gestapo-Verbrecher, war ebenso wie Willy Schmidt in der Warschauer Kommandantur. Wie konnte Schmidt in diesem Umfeld Juden retten? 

Norman Baltrusch und Ilana Lewitan mit ihrem Mann Louis Lewitan reisen mit dem Filmteam nach Warschau. Kein Haus im Ghetto existiert mehr, erstaunlicherweise aber eine alte Treppe aus jener Werkstatt, in der Robert Schmusch Zwangsarbeit geleistet hatte. Willy Schmidt, leitete die Werkstätten von der SS-Kommandantur in der Alea Schucha.

In den Gerichtsprotokollen ist vermerkt, Willy Schmidts Arbeiter seien abgeholt worden, ein Erschießungskommando sollte sie ermorden. Sie standen bereits an einer Mauer vor dem Pawiak-Gefängnis zur Erschießung aufgestellt.

Willy Schmidt soll mit dem Kommandeur verhandelt haben, er brauche seine Arbeiter. Also seien seine 100 jüdischen Zwangsarbeiter wieder zurückgebracht worden in die LKWs, und hätten so überlebt.

Willy Schmidt hat diese Aussagen bestätigt. Auf die Frage des Richters in einem Prozess, ob er die Juden aus Mitleid gerettet hätte oder weil er sie als Arbeiter brauchte, antwortete der SS-Mann: »Beides«.

Norman will nicht verstehen, dass sein Großvater ein Teil, ein wichtiges Rädchen im mörderischen System war. 

Ein überlebender Zeuge, Moses Smulewicz, bestätigt seine Rettung durch Willy Schmidt. Ob auch Robert Schmusch unter den Geretteten war, ist nicht belegt, er macht auch später keine Aussage über eine Rettung.

Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto ahnte Robert Schmusch von einer nächsten geplanten Erschießung. Er warnte andere Zwangsarbeiter, flüchtete und wurde von einer polnischen Familie versteckt.

Norman und Ilana begeben sich auf der Suche nach der Geschichte ihrer Vorfahren nach Warschau. Dort, im Angesicht der Vergangenheit, wird immer stärker klar, wie unterschiedlich die Haltung von Ilana und Norman zu dem hier Erlebten und zur Vergangenheit ist.

»Wir weinen, doch wir weinen aus unterschiedlichen Gründen«, sagt Louis Lewitan auf dem Hof des ehemaligen Gefängnisses Pawiak zu Norman. Ein Schlüsselsatz. Denn so sehr die beiden Nachkommen gemeinsam nach der Vergangenheit suchen, so sehr wächst auch ihre Distanz zueinander.

Gibt es eine wie auch immer geartete Versöhnung? Nein. Sie entfernen sich anschließend, der Kontakt bricht bald nach der Reise ab.

Ilana blickt auch Monate später irritiert zurück: Norman will nicht verstehen, dass sein Großvater, mag er auch gegenüber seinen jüdischen Arbeitern menschlich gehandelt haben, ein Teil, ein wichtiges Rädchen im mörderischen System war. 

Norman wiederum ist enttäuscht darüber, dass Ilana seinen Großvater nicht als Helden sieht, der Juden gerettet hat, »einen Guten«, wie er sagt.

Viele Fragen bleiben offen: Willy Schmidt wurde, so legen es Zeugenaussagen nahe, weil er zu freundlich zu Juden war, nach Minsk strafversetzt und erhielt dort einen Massenerschießungsbefehl. Hat er sich dem gebeugt? Belegt ist nur, dass Schmidt 1944 wegen Wehrzersetzung von einem SS-Gericht in Wien verurteilt wurde - der Kriegsverbrecher Heinrich Wiechert spricht im Prozess davon, dass Schmidt sich geweigert habe, an einer Erschießung teilzunehmen.

Ob das und die Rettung der Juden in Warschau einen »guten SS-Offizier« aus ihm macht? Daniel Heimes vom Koblenzer Archiv, das die Prozessakten zum Kriegsverbrecher Richard Wiechert aufbewahrt, ist da klar: »Einen guten Nazi gibt es nicht. Jeder, der Teil des SS-Systems war, ist mitverantwortlich für den Tod von Millionen von Juden.«

In den Prozessen als Zeuge hat Schmidt weder gegen Hahn noch gegen Klaustermeyer ausgesagt. Warum nicht? Weil die Nazis in den Sechzigern noch überall in Amt und Würden wirkten? Weil er seiner Familie diese Aussagen nicht zumuten wollte?

Er hat geschwiegen. So wie Robert Schmusch über all das Fürchterliche, das er durchlebt hatte.

»Das Schweigen« ist eine wahrhaftige, eine glaubwürdige und außergewöhnliche Dokumentation. Sie verzichtet auf schnelle Antworten, simple Bewertungen und tritt der Erwartung entgegen, hier könne etwas »aufgearbeitet« werden, was schlicht nicht aufzuarbeiten ist. Norman schließt mit seinem Großvater ab. Die Geschichte sei für ihn rund. Ilana hätte noch viele Fragen an ihren Vater, die sie nie mehr stellen kann.

Die letzten Zeitzeugen sterben, und mit ihnen geht die Erinnerung an all jene, die dem millionenfachen Morden nicht entkommen konnten. Die Dokumentation von Andrea Roth zeigt, wie eine Erinnerung lebendig bleiben kann.

Zudem beweist sie anhand der manchmal zu kurz eingeblendeten Protokolle, wie milde die Justiz mit den Mitgliedern einer verbrecherischen Organisation noch in den Sechzigern und Siebzigern umgegangen ist. 

»Das Schweigen« sollte in Schulen und Bildungseinrichtungen ein fester Bestandteil des Lehrplans werden. Der Film ist zudem, gerade wegen seiner Aufrichtigkeit und seines Mutes, Ambivalenz zuzumuten, in hohem Maße preiswürdig. 

Die Doku in der ARD-Mediathek findet sich hier.

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