von Ellen Presser
Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? So lautet eine der vier Fragen am ersten Seder-Abend. Man legt, müsste es wahrheitsgemäß heißen, noch mehr Hüftgold an als bei jedem anderen Festschmaus. Und dies acht Tage lang. Es ist die Rede von Pessach, dem Fest, das uns Juden an die Zeit der Versklavung in Ägypten erinnert und an die Befreiung eines ganzen Volkes. Sich vom pharaonischen Joch zu befreien, war für die Israeliten mit Gottes Hilfe und dank der Führungsqualitäten Moses’ zu schaffen. Wer aber rettet einen vor einem Sechs-Gänge-Menü, das den Cholesterin- und Blutzuckerspiegel jedes Ernährungsberaters schon bei der Lektüre der Speiseabfolge hochtreibt? »Ma nischtana halaila haszeh, mikol haleilot?«, fragt das jüngste Familienmitglied. Und vergisst die Melodie sein Lebtag nicht mehr, die den Verzehr von Mazze und Bitterkräutern, von Ei in Salzwasser und Charosset begleitet, seit es eine essbare Erinnerung an den Lehm, einen essenziellen Baustoff der Pyramiden-Plackerei, gibt.
Mag sein, dass das Wort »Seder« sich auf die Gebetsordnung und das detailreiche Ritual von Segenssprüchen, Geschichten und Gesängen bezieht. Doch welche Rabbiner auch immer die Präzisierung der Regularien sich einfallen ließen – sie haben meine Mutter nicht gekannt. Das Tempo unserer Lesung der Pessach-Haggada hing von ihrem Küchen-Timing ab. Wehe, mein Vater verhinderte das punktgenaue Servieren der Mazzeknödel-Suppe. Genau das aber geschah jedes Jahr. Mal durch Trödeln, weil er sich in einen religionsphilosophischen Diskurs mit einem besserwisserischen Gast verhedderte, mal durch Textüberspringen, weil er müde und hungrig war.
Spätestens an dieser Stelle der Lektüre wird jeder religiös observante jüdische Mensch verzweifelt seufzen, wie ein Jahrhunderte altes, ernstes und erprobtes Ritual so freigeistig zelebriert werden könne. Und doch möchte ich behaupten, dass kein anderes jüdisches Fest so bewusst und ausführlich begangen wird wie Pessach. Nicht immer nach dem vorgeschriebenen Reglement, doch meist voller guter Vorsätze und Vorbereitungen: vom stressigen Pessach-Putz, der in seiner Gründlichkeit alles Gesäuerte aus dem Weg zu schaffen, jeden Frühjahrsputz blass aussehen lässt, bis zum Einkauf von Koscher-Wein und Mazze in allen Variationen. Entweder mag man das geschmacksneutrale viereckige Teil, das acht Tage lang Brot, Nudeln und andere Teigwaren ersetzt. Oder man hat richtig was zum Lamentieren, weil es nach nichts schmeckt, krümelt und verstopft.
Hilfreich waren in meinem Elternhaus die reich illustrierten Pessach-Haggadot, die der Jüdische Nationalfonds mit den besten Wünschen für »ein koscheres und fröhliches Pessach-Fest« versandte. Die Auflistung der »Reihenfolge am Sederabend« sorgte dafür, dass das Zeremoniell nicht von Anfang an aus dem Ruder lief. Die fantasievollen Bilder vergegenwärtigten das Leben in der ägyptischen Sklaverei oder das Ausmaß der zehn Plagen.
Die 14 Stellungnahmen, »wie viele Wohltaten der Allgegenwärtige uns erwiesen hat«, nehmen sich wie ein Kompendium der Bescheidenheit aus und zeugen doch viel eher von der Unbescheidenheit der Gott Lobpreisenden: »Hätte er für unseren Unterhalt in der Wüste 40 Jahre lang gesorgt, ohne uns mit Manna zu nähren, es hätte uns genügt. Hätte er uns mit Manna ernährt und uns nicht auch den Schabbat gegeben, es hätte uns genügt. Hätte er uns nur den Schabbat gegeben, ohne uns weiter vor den Berg Sinai zu führen …« Wie subtil unsere Weisen doch unter Beweis stellen, dass man Didaktik mit Selbstironie verknüpfen kann. Und doch ist das Narrativ vom Auszug eines Volkes aus der Sklaverei, das sich am Berg Sinai eine noch viel größere Verpflichtung einhandelte als in den Zehn Geboten festgehalten, erinnerungsmächtig für das ganze jüdische Kollektiv.
Wenden wir uns noch einmal der Majorität der säkular Lebenden und dem Pessach-Phänomen zu. Es ist eine eigenwillige Mischung. Da wäre zunächst eine dramatische Geschichte, die generationenlang weitererzählt wird und damit viel näher erscheint als die Auswirkungen der Franzö- sischen Revolution oder die Mondlandung. Die waren nachweislich ja auch von Menschenhand. Darum lässt man sich die Haggada aber noch lange nicht von ein paar Altertumsforschern und Ägyptologen zerlegen, die behaupten, der ganze Auszug eines Volkes habe so gar nicht stattgefunden. Da gibt es Köstlichkeiten wie Nudelsuppe ohne Nudeln. Und es gibt ein Regelwerk, das jedes Jahr aufs Neue einlädt, erfüllt zu werden. Wenn man sich in diesem Jahr noch mit einer Light-Version begnügt, so bleibt die Hoffnung, im nächsten Jahr die Vorschriften genauer zu erfüllen oder wenigstens zu wissen, was man versäumt hat. So wie man alle Jahre wieder an vielen Orten der Welt sagt: »Nächstes Jahr in Jerusalem«.