S. sagt, sie sähe die Welt nun mit anderen Augen. Alles scheine plötzlich neu, glänzend, fast, als wäre sie noch einmal geboren worden oder so was. Sie sagt es nach dem dritten Glas Wodka und ein paar Schlucken köstlichen hausgebrannten Pflaumenschnapses, aber sie sagt es dennoch. Zwischen den Sätzen wirft sie dem viel zu jungen, viel zu blonden DJ heiße Blicke zu. Als das Lied zu Ende geht, nickt S. noch einmal entschlossen, wiederholt, etwas Besseres als die Trennung von ihrem netten Freund, mit dem sie sieben lange Jahre zusammen gewesen war, hätte ihr gar nicht passieren können. Dann steht sie auf und wackelt unsicheren Schrittes auf den etwa 18-jährigen DJ mit den blonden Haaren, die ihm in die verschwitzte Stirn fallen, und den konzentrierten blauen Augen zu. Mich lässt S. alleine am Tisch sitzen.
Macht nichts, ich habe heute viel zu tun. Ich bin heute die Trauzeugin von A. Es ist eine ehrenvolle Aufgabe. Ich habe peinlich kitschige Luftballons in Herzform besorgt. Ich habe allen Verwandten die Hand geschüttelt. Ich habe aus dem Internet geklaute Hochzeitsspielchen anmoderiert. Ich halte Nasenspray und andere Medikamente für die Braut in meiner Handtasche bereit, denn A. ist erkältet. Ich habe eine dramatisch romantische Rede gehalten. Ich habe erzählt, wie A. ausgelassen und fröhlich durch meine Wohnung hüpfte, als sie von ihrem Nun-seit-fünf-Stunden-Ehemann die erste SMS nach dem ersten Date bekam, in der er fragte, ob sie ihn wieder sehen wollte. Wir haben nun darauf angestoßen (und ausgetrunken), dass die beiden niemals aufhören zu hüpfen, wenn sie aneinander denken. Netterweise stand das Brautpaar auf und hüpfte ein bisschen, bevor wir uns alle umarmten. Es war ein bisschen wie im Hollywood-Film.
Damals, als A. durch meine Wohnung hüpfte, hatte sie sich gerade relativ frisch von ihrem Ex-Freund getrennt. Sie lamentierte gerne und lange darüber, dass sie die Welt nun mit anderen Augen sah. Dass alles so glänzte, so neu war. Als sei sie eine Zeitlang blind gewesen, als wäre sie nun erwacht. Sie aß nun bevorzugt Kartoffeln, und jedes Mal fügte sie hinzu, Kartoffeln seien ihr Lieblingsgericht, nicht Pasta. In den letzten Jahren habe sie mit dem Ex zu viel Pasta gegessen. »Nie wieder Pasta!«, hatte sie damals verkündet. Bei der Hochzeit gibt es weder Pasta noch Kartoffeln. Dafür viel Wurstsalat, den der Bräutigam gerne isst.
Ich hörte zu. Ich hörte A. zu, so wie ich auch heute S. zuhöre, wie es sich für eine Freundin gehört. Während ich zuhörte, überlegte ich fieberhaft, ob ich eher ein Pasta- oder ein Kartoffelmensch bin. (Darf man auch ein Mix-Mensch sein?). Und ob ich zu viel oder zu wenig von dem Einen oder Anderen aß. Oder meine Musik aufgegeben hatte. Oder sonst irgendwas. Leider konnte ich mich kaum noch daran erinnern, was für Musik ich früher gehört hatte. Früher, vor meinem Freund. Vor sieben Jahren ungefähr also. War das ein schlechtes Zeichen oder hatte ich schon immer die gleiche Musik gehört?
S. sagt, als sie von ihrem Ausflug zum DJ zurückkommt – sie hatte in seiner Nähe Konkurrenz bekommen und beschlossen, erst einmal, mit mir anzustoßen –, sie habe nun ihre Freiheit wieder. Einen Neuanfang geschenkt bekommen. Eine große Chance. S. sagt, sie gehe jetzt öfter tanzen, das habe sie früher nicht gemacht. Sie sagt es, als wäre es ihr vorher verboten worden. Ich denke daran, wie wir in einer WG zusammen lebten, als wir jeweils etwa vierjährige Beziehungen führten, und sie kurz vor dem Ausgehen immer wieder vorgeschlagen hatte, eine DVD auszuleihen und auf der Couch Häagen-Dasz-Strawberry-Cheesecake-Eis zu futtern, sei doch auch eine schöne Sache. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ihr Freund bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hat. Zweifel sät es in mir doch. Vielleicht öffnet ein Neuanfang einem tatsächlich neue Horizonte.
Manchmal denke ich, alle Paare sollten ganz spießig werden (sind sie es nicht schon sowieso?) und nur noch mit Paaren befreundet sein. Vielleicht ist das nicht langweilig, sondern klug. (Irgendwie scheinen mit der Zeit all die Dinge, die man früher um Gotteswillen nicht tun wollte, weil sie so langweilig waren und an die Eltern erinnerten, eh erstaunlicherweise klug. Ich habe jetzt eine Rechtschutz- und eine Lebensversicherung abgeschlossen.) Wenn man von anderen Paaren umgeben ist, ist alles gut. Keiner spricht von Neuanfängen, dafür kann man die Geschichte des Partners jeweils für ihn zu Ende erzählen, man kann sich das Essen teilen, über Wohnungseinrichtungen reden, alles ruhig, spießig und irgendwie leicht.
Singles und Paare haben wechselwirkend einen schlechten Einfluss aufeinander. J., der immer wieder Single ist, weil seine Beziehungen nie lange andauern – die Frauen stellen sich immer als zu langweilig, nervig, unverliebt heraus –, sagt, Paare tun einem Single weh, weil man sich daran erinnert fühlt, was man nicht hat: die kleinen Unaufregendheiten. Nebeneinander im Bett liegen und lesen. An den anderen im Supermarkt denken und ihm seine Lieblingskekse mitbringen. Das Essen teilen, wenn man keinen großen Hunger hat. Sich zu zweit vor dem Fernseher langweilen.
Umgekehrt finde ich es noch schlimmer. Singles haben ein spannendes Leben. Alles ist neu, aufregend, schön. J., der mein bester Freund ist, hat einen Neuanfang nach dem anderen. Jede paar Wochen fühlt er sich wahrscheinlich wie wiedergeboren. Ständig die Aufregung, das Warten, ob die diesmonatige SIE sich meldet, was passieren wird, wenn sie sich sehen. Ich bin live – übers Telefon – als beste Freundin dabei und werde über jeden wichtigen Schritt informiert, während ich mich mit meinem Freund vor dem Fernseher langweile und meine Lieblingskekse esse, die er mir vom Einkaufen mitgebracht hat. Und mich ein bisschen frage, ob ich nicht auch so einen Neuanfang will. Nur um der Aufregung willen. Nicht wirklich ernst. Mit Sicherheitsnetz im Rücken.
Einmal fragte ich blöderweise meine Mutter. Meine Mutter, die seit fast vierzig Jahren mit meinem Vater verheiratet ist, erklärte mir lang und breit, dass unsere Generation den Fehler begehe, nach immer mehr zu streben, immer etwas Besseres zu suchen, unersättlich zu sein. Deshalb sei die Scheidungsrate so hoch, deshalb habe Deutschland eine umgekehrte Alterspyramide und ein Kinderproblem, deshalb habe J. keine Freundin. Jeder Neuanfang ist nach ein paar Wochen nicht mehr neu, sagte meine Mutter, sie langweilt sich mit meinem Vater seit fast vierzig Jahren vor dem Fernseher und ist glücklich. Ich gab nicht so viel darauf, denn ich bin vielleicht in einer langen Beziehung, aber noch lange nicht so alt und spießig, als dass ich auf meine Mutter hören würde.
Manchmal, so einmal im Jahr, frage ich meinen Freund. Ob er sich nicht manchmal nach einem aufregenden Neuanfang sehnt. Nur so, theoretisch. Nur interessehalber. Er schaut mich dann mit diesem Blick an, mit dem man sich nur anschauen kann, wenn man sich seit sieben Jahren in- und auswendig kennt, nimmt mich in den Arm und fragt, ob wir schon wieder dieses Gespräch führen müssen. Er sehne sich nicht nach einem Neuanfang, er sei zufrieden und glücklich, außerdem sei es mit mir nie langweilig. Da gebe ich ihm Recht. Dann will er meistens wissen, ob sich vielleicht jemand getrennt habe in meinem Freundeskreis, ob J. vielleicht frisch verliebt sei oder ich einen Hollywood-Film gesehen habe.
S. sagt, der DJ sei doof. Der DJ flirtet schon seit einer halben Stunde mit der Blonden, das finden wir beide nicht gut. S. und ich, wir trinken den nun schon achwas-weiß-ich-wievielten Wodka. Noch einen, und S. sagt plötzlich, sie vermisse ihren Ex. Nur ein ganz klein wenig.
Die Hochzeit findet auf einem Bauernhof statt. Als ich zum Auto laufe, um mir eine Jacke zu holen, komme ich am Kuhstall vorbei. Und weil sich alles so beunruhigend dreht, auch ich und die Erde, bin ich mir plötzlich sicher, dass die Außen-Kuh, also die braune mit den weißen Flecken, auf dem Kopf steht. Falsch herum. Es sieht unbequem aus. Erschrocken renne ich zurück und teile allen, die ich sehe, panisch mit, wir müssten die Kuh bitte richtig herum drehen. Sie schauen mich an, als sei ich selbst eine Kuh. A. sagt, jemand solle mir Wasser bringen. S. sagt, ich solle nicht so schreien, ihr sei schlecht. Mein Freund nimmt mich in den Arm, sagt, es komme alles in Ordnung, er kümmere sich um die Kuh, stopft S., mich und noch ein paar andere ins Auto und bringt uns sicher in unsere Pension.
»Was ist mit der Kuh?«, frage ich kurz, bevor ich einschlafe. Auch das Bett und das Zimmer drehen sich sonderbarerweise. »Die steht wieder richtig herum«, versichert er mir, so, dass ich nun beruhigt einschlafen kann.
Am nächsten Morgen fahren wir noch einmal bei der Kuh vorbei, um sicherzugehen, dass sie nicht auf dem Kopf steht. Wir schauen auch bei den Frischvermählten vorbei, A. hat eine sehr rote Nase und Fieber, und ihr neu gebackener Ehemann kocht ihr eine Backerbsensuppe. Ein Ehe-Neuanfang. Auf dem Rückweg bringen wir S. und zwei weitere Damen, deren gestriges Interesse am zu jungen DJ in etwa proportional zum Grad der nun hängenden Köpfe hinten im Auto ist, nach Hause. Zum Abschied sagt S.: »Ich habe gestern ja so viel Schwachsinn geredet.«
Nachdem wir alle abgeliefert haben, fahren wir in unser neues Zuhause, in das wir vor zwei Tagen eingezogen sind. Die Wohnung ist ein Durcheinander von ausgepackten Kisten und Billy-Regalen, die noch zusammenzubauen sind. Ein Neuanfang in einer neuen Wohnung, unsere dritte gemeinsame. Über Kisten hinweg klettere ich ins Bett und begutachte das Durcheinander. Morgen wird aufgeräumt, morgen ist ein neuer Tag, ein Neuanfang sozusagen. Und dann denke ich, so wie man sich am Anfang eines neuen Jahres zwar Dinge vornimmt, aber sich eigentlich nur daran hält, wenn die einigermaßen an das vorangegangene Jahr anknüpfen (und man nicht plötzlich beschließt, auf jeden Fall jeden verdammten Morgen bei jedem Regen und Schnee joggen zu gehen, obwohl man seinen Fitness-Center-Ausweis im vergangenen Jahr kein einziges Mal aus dem Portemonnaie geholt hat), dass Neuanfänge wohl dann am Besten und Sinnvollsten sind, wenn sie an die Vergangenheit anknüpfen. Und ein Neuanfang für jeden etwas anderes sein kann. Und dass Neuanfänge sowieso überschätzt werden. Und überhaupt. Und mit diesem Gedanken kuschele ich mich an meinen Freund und schlafe hundszufrieden ein. Schana Tova!
Lena Gorelik (26) ist Schriftstellerin und lebt in München. Zuletzt erschien im Frühjahr 2007 von ihr der Roman »Hochzeit in Jerusalem« (SchirmerGraf).