von Jonathan Scheiner
Der Soldat auf dem Foto entspricht so gar nicht Kurt Tucholskys heiß umstrittener Parole »Soldaten sind Mörder«. Denn der Soldat döst, ist auf dem Boden sitzend eingenickt, das Sturmgewehr auf seinem Schoß. Von diesem Mann, so bekundet seine schlaffe Haltung, geht keine Gefahr aus. »Es handelt sich um einen Soldaten, den ich im arabischen Viertel von Jerusalem fotografiert habe«, erläutert Norma Drimmer. Der Kontrast zwischen dem friedlich schlafenden Soldaten und der Vorstellung vom gewalttätigen Soldaten- alltag in Ost-Jerusalem hat sie zu ihrem Werk inspiriert. Es hängt gemeinsam mit weiteren Arbeiten der Künstlergruppe Meshulash in einer Ausstellung im Centrum Judaicum. Das Thema der Schau heißt »Erwählung«.
Historisch betrachtet bezeichnet »Er-
wählung« den Bund, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat. Aber dieses Auserwähltsein liefert Neidern und Antisemiten bis heute einen willkommenen Anlass für Ressentiments, weil irrtümlich angenommen wird, die Juden seien Gottes Lieblingsvolk – und man selbst sei nur zweiter Klasse. Ronnie Golz, einer der beteiligten Künstler, hat den zwiespältigen Begriff »Erwählung« sehr drastisch umgesetzt. In einer Fotomontage wird ein Text des jüdischen Philosophen Günther Anders (1925-1992) zitiert, der den »Monopolvertrag« zwischen Jahwe und Abraham aufgreift. Doch Günther Anders, so sagt es der Text, glaubte gar nicht an diese Form der »Erwählung«, sondern jene, die mit dem Wort Selektion in enger Verbindung steht und von den Nazis an der Rampe von Auschwitz praktiziert wurde. »Diese Auserwählung ist die einzige, an die ich glaube«, schrieb Anders. Ronnie Golz hat Anders’ Haltung visualisiert, indem er den Text mit dem Abbild von Moses und der Gebotstafel sowie dem Foto eines KZ-Krematoriums überblendet hat.
Für keinen der zehn Künstler, von denen vier als Gäste der jüdischen Künstlergruppe Meshulash (hebr.: Dreieck) eingeladen wurden, ist der Begriff »Erwählung« durchweg positiv besetzt. Dabei stand es den Beteiligten frei, wie sie das Thema in Szene setzen und welche Materialien sie verwenden.
Die Bilder wurden auch in Öl auf Leinwand gebracht, wie das großformatige Bild von Gabriel Heimler, der Meshulash im Jahr 1992 gegründet hat. Darauf er-
kennbar ein Mann, der mit Blick auf den Betrachter von einer Horde junger Frauen umringt ist, deren Rückenakte zu sehen sind. Assoziationen zur Enge und Blöße in den Gaskammern blitzen ebenso auf wie das Glücksversprechen, für ein Selbstmordattentat mit 72 Jungfrauen belohnt zu werden.
Bei den anderen Bildern handelt es sich um Collagen, wie bei der Arbeit von Salean Maiwald oder Schwarz-Weiß-Fotografien von Silke Helmerdig. Unter den zwei Skulpturen der Ausstellung befindet sich eine Gemeinschaftsproduktion von Karen Baldner und Björn Krondorfer. Zu sehen sind Abgüsse von zwei Händen, die verbunden sind durch Telegrammstreifen mit Glückwünschen zum Geburtstag »aus dem Land der Reichsprogromnacht«. Erst beim zweiten Hingucken fällt auf, dass sich in das Wort Pogrom ein zweites »r« eingeschlichen hat. Nur ein peinlicher Schreibfehler oder doch die gezielte Annäherung an das Wort Programm? Das Werk jedenfalls lässt, wie die anderen Stücke, die Deutung offen. Auch das passt ins Konzept des Kollektivs. »Kunst sollte nicht Deutungen, sondern Fragestellungen liefern«, betont Norma Drimmer.
»Erwählung« ist nicht die erste Ausstellung von Meshulash, doch »der Entstehungsprozess ähnelt sich von Mal zu Mal«, erklärt die Künstlerin. Zunächst einigt sich die Gruppe auf ein Thema und lädt sich dann einen Rabbiner ein, um entsprechende Bibelstellen zu erörtern. »Erst dann wird der Begriff innerhalb der Gruppe diskutiert. Wie jeder einzelne Künstler dann damit umgeht, entscheidet jeder selbst. Wir quatschen einander nicht hinein.« Die Ausstellung ist noch bis Ende des Monats ge-
öffnet.
»Erwählung«, Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28–30, www.cjudaicum.de