In der einstigen Sowjetrepublik Aserbaidschan am Kaspischen Meer leben heute rund 30.000 Juden. Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Semyon Ihilov. Er führt die Religionsgemeinde der Bergjuden in Baku. Kürzlich nahm er in Berlin an einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum interreligösen Dialog teil. Unser Autor Olaf Glöckner hat mit ihm gesprochen.
Viele Bergjuden, aber auch georgische und aschkenasische Juden haben Aserbaidschan in den unruhigen 90er-Jahren verlassen. Ist der große Exodus nun vorbei?
ihilov: Davon können wir ausgehen. Natürlich gibt es noch einzelne Personen, die Aserbaidschan verlassen, meistens im Rahmen von Familienzusammenführung. Aber insgesamt gesehen, können wir inzwischen von einem beständigen Gemeindeleben sprechen.
Noch vor wenigen Jahren sind zahlreiche aserbaidschanische Juden nach Deutschland eingewandert.
ihilov: Das hat mich zunächst sehr irritiert. Anfang der 90er-Jahre wanderten die Menschen wegen der postkommunistischen Wirtschaftskrise, der schlechten Versorgungslage und der armenischen Aggression aus. Das war verständlich. Aber ich fragte die Gemeindemitglieder: Warum muss es ausgerechnet Deutschland sein, das Land des Holocaust? Mittlerweile habe ich verstanden, dass unsere Leute in ein funktionierendes demokratisches Land gekommen sind – und dort das jüdische Leben stabilisieren. Darüber freue ich mich.
Hat das Abklingen der Ausreisewelle auch etwas mit der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung in Aserbaidschan zu tun?
ihilov: Ganz sicher. Auch wir Juden erleben, wie sich vieles in Aserbaidschan zum Positiven wendet. Der Wohlstand des Volkes wächst. In den letzten vier Jahren hat sich das Land enorm modernisiert, und das Bruttosozialprodukt hat sich verzehnfacht.
Trotzdem arbeiten viele aserbaidschanische Juden im Ausland, zum Beispiel in China und Russland.
ihilov: Manche von ihnen schaffen es auf diese Weise eben am besten, ihre Familienmitglieder solide zu versorgen. Alte, kranke und einsame Menschen werden aber auch von den jüdischen Gemeinden in Baku, in Krasnaja Sloboda und in Oguz unterstützt, unter anderem mit Lebensmitteln und Medikamenten.
In Aserbaidschan gibt es heute acht Synagogen, davon drei in Baku. Inwiefern helfen internationale jüdische Organisationen und Bewegungen, das jüdische Leben in Aserbaidschan zu stärken?
ihilov: Chabad Lubawitsch hat in Baku einen Kindergarten und eine Schule eröffnet. Die Bewegung tut viel, um die jüdische Bildung der Mädchen und Jungen in unserem Land zu fördern.
Abgesehen von wenigen Zwischenfällen, gilt Aserbaidschan als ein Land ohne Antisemitismus. Auch zwischen der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung und der christlichen Minderheit soll es keine Konflikte geben. Worauf führen Sie diese ungewöhnliche Harmonie zurück?
ihilov: Da spielen zwei Faktoren zusammen: Zum einen unterbinden Regierung und Staat entschieden die Anfeindung und Diskriminierung religiöser Minderheiten. Ein weiterer wichtiger Grund scheint mir im Naturell, in der Mentalität der Aserbaidschaner zu liegen. Die Menschen haben einfach kein Interesse an Hass und an Konflikten. Die Mehrheitsgesellschaft kommt uns mit sehr viel Respekt und Achtung entgegen. Das war in unserer Region von Anfang an so, es gibt eine lange Tradition der religiösen Toleranz.
Welche Rolle spielen Juden in Politik und Wirtschaft Ihres Landes?
ihilov: Vieles hängt vom Beruf und der gesellschaftlichen Position ab. Da die jüdische Bevölkerung von Aserbaidschan viel Achtung und Respekt genießt, will sie sich aktiv in die politische und ökonomische Entwicklung einbringen. Ich beziehe mich da – als religiöser Vertreter – ausdrücklich mit ein. Wir haben eine klare Trennung von Staat und Religion, und dennoch ist es mir wichtig, meinem Heimatland im In- und Ausland nützlich zu sein.
Was wünschen Sie sich und der jüdischen Gemeinschaft in Aserbaidschan für die nächsten fünf bis zehn Jahre?
ihilov: Ich wünsche mir, dass die Gemeinde genauso aufblüht wie unsere Republik.