Das Leid der zweiten Generation
3.000 Kinder von Holocaust-Überlebenden wollen Deutschland
verklagen
von Sabine Brandes
Jahrelang war Jaffa Schani in psychotherapeutischer Behandlung. Der Grund waren nicht ihre eigenen, sondern die Depressionen ihrer Mutter. Zwar hatte diese die deutsche Vernichtungsmaschinerie überlebt, die Lebensfreude war ihr jedoch für immer verloren gegangen. Ihre Tochter stand der endlosen Krankheit der geliebten Mutter hilflos gegenüber – und fiel selbst in tiefe Traurigkeit.
Jetzt wollen Menschen wie Schani, dass Deutschland für ihre Therapien zahlt. Vor einem Tel Aviver Gericht reichten sie am vergangenen Sonntag eine Sammelklage ein, die als beispiellos gilt. 3.000 Töchter und Söhne von Überlebenden haben sich der Initiative bereits angeschlossen, berichtete die Tageszeitung Haaretz in der letzten Woche, darunter einige der berühmtesten Akademiker, Künstler und Fernsehpersönlichkeiten Israels.
Unter anderem beschreibt die Anklage den seelischen Zustand von fünf Töchtern, die alle unter Traumata, Angstzuständen und Depressionen leiden. Eine andere Klägerin könne nicht in Bussen fahren, weil sie sich an Züge erinnert fühle, mit denen die Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden. Zudem müsse sie ständig Psychopharmaka nehmen.
Auch die bekannten Fernseh- und Theaterschauspieler Irit und Ezra Dagan stammen aus Überlebendenfamilien und wuch-
sen mit Schweigen und Weghören auf. Irit erinnert sich: »Als wir Jugendliche waren, wollte meine Mutter zwar darüber reden, doch alles daran war unerträglich. Also haben wir uns die Ohren zugehalten und sind weggelaufen. Auch im Elternhaus ihres Mannes herrschte traumatisches Schweigen.« Erst nach seiner Rolle als Rabbiner Lewertov in Steven Spielbergs Schindlers Liste wurde ihm klar, dass er sich mit der Vergangenheit seiner Eltern auseinandersetzen muss. Gemeinsam entwickelten die Eheleute das »Theater des Erinnerns«, bei dem Überlebende ihre Geschichte auf der Bühne gemeinsam mit Jugendlichen erzählen.
Zahlreiche Studien kommen zu dem Schluss, dass die seelischen Schädigungen der Opfer durch die extrem grausamen Erlebnisse oft so ausgeprägt sind, dass ihre erzieherischen Fähigkeiten notgedrungen leiden mussten. Typisch für Eltern, die die Schoa überlebt haben, so Experten, seien übermäßige Einmischung oder totaler Rückzug, ständiges Trauern, überzogene Kontrolle und generell die Unfähigkeit, als Eltern zur Verfügung zu stehen. »Jetzt bringen die Eltern ihre Kinder in die Praxen der Psychologen«, schrieb ein Autor schon vor 25 Jahren.
Jaffa Schani hat sich noch nicht der Sammelklage angeschlossen, doch sie findet die juristische Inititative gegen Deutschland »fair und richtig«. Es sei an der Zeit, die Schmerzen der zweiten Generation anzuerkennen. »Ich habe mein ganzes Leben unter dem gelitten, was meinen Eltern von den Deutschen angetan wurde, und es wäre nur gerecht, wenn sie jetzt zumindest für meine Therapien zahlen würden«, so die 52-Jährige. »Denn ohne das Geschehene hätte ich diese Behandlungen niemals gebraucht.«