von Sigrid Brinkmann
Eine mit 25 Diamanten bestückte Kette hatte man Tuvia Tenenbom um den Hals gelegt, als er mit 17 Jahren Rabbi in Mea Schearim wurde, wo Jerusalems Frömmste der Frommen leben. Tenenbom hat Sinn für Theatralik; seine Stimme schraubt sich leicht hoch, wenn er die Szene beschreibt. Der heute 49-Jährige ist im ultraorthodoxen Tel Aviver Stadtteil Bnei Brak aufgewachsen. Seine Familie hatte in ihn höchste Erwartungen gesetzt. Alles schien be- reitet für einen Weg, auf dem er bis in die Ewigkeit »von einem Engel zur Rechten und einem zur Linken« begleitet würde. Doch das Studium biblischer Quellen brachte Tenenbom dazu, die Bräuche und Lebensweise der Strenggläubigen laut in Frage zu stellen. Die Haredim schlossen ihn aus ihrer Gemeinde aus. Tenenbom sagt auf Englisch: »They kicked me out«, und es klingt, als hätte man ihm damals tatsächlich kräftig in den Hintern getreten.
Der Verstoßene ging nach New York, wo er inzwischen seit drei Jahrzehnten lebt. Wenn Tenenbom heute Mea Schearim besucht, senken ehemalige Freunde den Blick, wenn sie ihm begegnen. Seine Eltern und Geschwister fragen nach seinem Befinden, darüber hinaus wünschen sie keinen Austausch. Als er das erzählt, wirkt der stämmige Mann für einen Moment dünnhäutig. Doch im nächsten Augenblick formuliert er mit fester Stimme: Ja, er sei glücklich, fortgegangen, aber ebenso glücklich, im Haredimilieu aufgewachsen zu sein. Selbst wenn er nicht mehr fraglos glauben könne, sei er immer noch erfüllt von der Schönheit der Sprache und der Bilder der Heiligen Schrift.
Tenenbom erzählt seine Geschichte in Berlin. Er ist hier, um über eine Deutschlandpremiere seines neuen Stücks »The last Jew in Europe« 2008 zu verhandeln. Die schwarze Komödie entstand nach einer mehrwöchigen Reise durch Polen, dem Land seiner Vorfahren. Die alten polnischen Kirchgängerinnen erinnerten Tenenbom an die Frauen in Mea Schearim, die polnische Küche glich den Speisen seiner Kindheit. Dafür, dass er nicht in Nostalgie verfiel, sorgte die Fülle antisemitischer Schmierereien in Lodz, wo doch nur fünfzehn bekennende Juden leben. Noch mehr ärgerten den Besucher die Beschwichtigungsversuche von jüdischen Gemeindevertretern und Rabbinern in Polen. All das hat er in dem Stück verarbeitet. Der Held ist ein junger katholischer Pole, der fürchtet, jüdischer Abstammung zu sein. Das würde ihn die Liebe seiner antisemitischen Freundin kosten. Ins Rollen bringt die Geschichte ein amerikanischer Mormonenmissionar, der in Lodz Ahnenforschung betreibt, um tote Juden postum zu taufen. Zum Schluss ist keiner mehr das, was er glaubt zu sein: Der vermeintliche Jude ist ein Enkel Dr. Mengeles, die blonde Antisemitin dafür das Kind christlich getarnter Juden.
Theater macht Tuvia Tenenbom seit 1994. Damals hatte er ein Erweckungserlebnis, als er die Stücke von Eugène Ionesco las und darin, wie er sagt, auf eine talmudische Welt stieß. An der Penn Plaza in Manhattan schuf er seine eigene Bühne, das »Jewish Theatre of New York«. Die Stücke schreibt er selbst. Tenenbom hat das »Tagebuch des Adolf Eichmann« und »Liebesbriefe an Adolf Hitler« dramatisiert, die modische Kabbala-Manie in den USA karikiert, über die Figur des »Vaters der Engel« nachgesonnen und Mea Schearim, dem Hort der Rechtgläubigkeit, aus dem er verstoßen wurde, ein Musical gewidmet: »Hundert Tore«.
Als Bühnenbetreiber ist Tenenbom freier Unternehmer. Subventionen? Nie gehört. Das Haus muss voll sein. Dafür sorgt der Chef mit Provokationen. Irgendwer fühlt sich von seinen Stücken immer auf den Schlips getreten und protestiert laut. Mal jüdische Organisationen, mal der prominente Radiomoderator Howard Stern, mal das polnische Konsulat. Das steht dann in den Zeitungen und lockt Neugierige in sein Theater.
Tenenbom zündet sich eine Gitane an. »Rauchen ist gut«, sagt er mit prustendem Lachen. Zu provozieren bereitet ihm sichtlich Vergnügen. Er blickt seinem Gegenüber ins Gesicht und forscht nach Zeichen von Empörung, Zustimmung oder Irritation. Offensive Flapsigkeit als Gesprächsangebot. Was er – ganz Theatermann – sucht, ist die dramatische Zuspitzung im Gespräch. Mitten ins Gesicht müsse man Leuten sagen, was man wahrnehme.
Das gilt aber nur für die Bühne. Bei den Recherchen für seine Stücke agiert der Autor und Regisseur gelegentlich wie ein Geheimagent. Nach dem Anschlag vom 11. September 2001 reiste Tenenbom nach Jordanien, wo er sich mit seinen blonden Haaren und seiner hellen Haut als Sohn eines SS-Offiziers ausgab. Er grinst. Die Lüge habe ihm während des mehrmonatigen Aufenthalts allerorts Türen geöffnet.
Die nächste Station war die Siedlung Kirjat Arba im Osten Hebrons. Dort gab sich Tenenbom als der Vertraute eines ultrarechten New Yorker Rabbis aus. Wieder löste das Falschspiel die Zungen und öffnete die Herzen. Das Ergebnis dieser Exkursion war »Die letzte Jungfrau«, aufgeführt auch in Hamburg, Frankfurt am Main und Köln. Selten ist ist der Irrsinn des Nahostkonflikts so auf den Punkt gebracht worden wie in dieser Farce, in der sich palästinische Terroristen als jüdische Doppelagenten entpuppen, die Juden nur so tun, als wären sie welche, und auch die Christen Falschspieler sind.
Komödien der Irrungen, in denen niemand das ist, was er vorgibt oder glaubt zu sein, sind Tenenboms Spezialität. Wer wie er in seinem Leben bereits Rabbiner, Taxifahrer sowie Diamantenhändler war und neben der Smicha ein Doktorat in englischer Literatur sowie Abschlüsse in Mathematik und Computerwissenschaften hat, weiß besser als andere, dass die permanente Abgrenzung zwischen »uns« und »denen« in die Irre führt.