Es ist eine besondere Beziehung: Avital Selinger, der Volleyball und Polen. Mit Volleyball verdient der Trainer sein Brot, aus Polen stammt seine Familie. Er selbst wurde vor 50 Jahren in einem Kibbuz geboren. Der Sport brachte ihn – trotz eher kleinem Wuchs ist Selinger ein versierter Spielmacher – Mitte der 80er-Jahre in die Niederlande, woher auch seine Frau stammt. Mit deren Team wurde er 1992 in Barcelona Olympiazweiter. Später, als Coach, verschlug es ihn nach Japan und Spanien, bevor er die niederländische Frauenauswahl übernahm. Mit ihr feierte er Anfang des Monats einen seiner größten Erfolge: die Silbermedaille bei der Europameisterschaft im polnischen Lodz.
250 Kilometer davon entfernt liegen Avital Selingers Wurzeln. In Krakau war sein Großvater Chaim ein erfolgreicher Unternehmer, sein Vater Arie wurde hier geboren. Bereits in den 30ern emigrierte die Familie nach Palästina, kehrte jedoch 1935 zurück nach Krakau. Die Umstellung war zu groß. Chaim Selinger wurde kurz vor der Befreiung in Auschwitz ermordet. Arie dagegen überlebte als Junge zwei Jahre im KZ Bergen-Belsen.
Nach der Schoa wanderte er zusammen mit anderen Familienmitgliedern nach Palästina aus und ließ sich im Kibbuz Ein haMifratz in der Bucht von Haifa nieder. Dort erblickt Avital das Licht der Welt. Jahrelang arbeitete er in der Landwirtschaft. Zwölf Stunden am Tag fuhr er, der als Trainer oft stoisch wirkt, allein im Traktor durch die Baumwollfelder – und fand es »herrlich«.
Auch der Grundstein für seine Sportlerkarriere wurde in Ein haMifratz gelegt. Volleyball, erinnert sich Selinger, sei der populärste Sport im Kibbuz gewesen. Aus dem einfachen Grund, dass dessen erste Generation fast vollständig aus Polen stammte und von dort die Begeisterung für dieses Spiel mitgebracht hatte. Und nicht nur das: »Alle Witze im Kibbuz spielten in Polen. Diese Bilder kommen nun zurück«, so Avital Selinger während des Turniers in Lodz.
Besonderen Raum in seinen Erinnerungen nimmt seine Großmutter Lina ein, deren Küche er in Polen »fast an jeder Straßenecke« riecht. Viele Familienmitglieder wollten nach der Schoa alles Polnische aus ihren Erinnerungen verbannen. Nicht so Lina Selinger: »Bis zu ihrem Tod sprach und dachte sie polnisch«, so ihr Enkel. Dieser brauchte durchaus Zeit, sich auf das Herkunftsland seiner Vorfahren einzulassen. Bei seinem ersten Besuch in den 80er-Jahren, so Avital, habe ihn die Ostblock-Tristesse nur abgeschreckt. Die graue, düstere Stimmung vergleicht er im Nachhinein mit dem Film Schindlers Liste.
Nicht nur Avital Selinger hat Probleme, sich der Vergangenheit zu öffnen. Stärker noch gilt das für seinen Vater Arie, auf dessen beruflichen Spuren er wandelt. Der Senior, einst ein legendärer Coach in den Niederlanden und den USA, trainiert mit 72 Jahren die Frauenauswahl Israels. Während der EM besuchte er seinen Sohn in Polen – wobei die Symbolik des Ortes außen vor blieb. »Ich habe mit meinem Vater noch nie darüber gesprochen. Wir reden nur über Volleyball.« Dies soll sich jedoch bald ändern: Da beide kein Clubteam mehr trainieren, denkt Avital Selinger an eine Familienreise nach Polen – mit seinem Vater. »Er kann es für uns greifbar machen. Er kann sagen, über diese Steine bin ich als Kind gelaufen, so war Krakau in meiner Jugend.«
Der eindrucksvollste Moment der EM war für Avital Selinger das Halbfinale gegen das Gastgeberland. Eigentlich gilt der introvertierte Trainer seinen Spielerinnen als leicht verbissener Mann, der am liebsten alle Zügel in den Händen hält. Doch nach dem Sieg in aufgeheizter Atmosphäre sah man ihn wie wild in die Luft springen. Hinterher sprach er begeistert vom »besten Volleyball, den ich von meinem Team gesehen habe«. Gespannt sein darf man, was diesmal aus seiner Silbermedaille wird. Als Aktiver wusste Avital Selinger damit offenbar wenig anzufangen. »Das Ding aus Barcelona hing fünf Jahre bei mir über der Heizung. Dann hab ich es an unseren Kibbuz in Israel ausgeliehen.« Tobias Müller
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