Seit fünf Jahren ziehen Mike und Cheli mit ihren Kindern im Sommer von ihrem Wohnblock in Jerusalem ans Meer, um am Strand einen Imbiss zu betreiben: Mikes schmales Gehalt als Busfahrer ein bisschen aufbessern für den Traum von Amerika. Dazu bekommen sie Sonne, Meer und das Gefühl von Freiheit gratis. In diesem Sommer ist nicht viel los. Bis ihre 13-jährige Tochter Anna, deren Motorik seit der Geburt gestört ist, eines Mittags nicht widerstehen kann und aufs Rad steigt. Ihren kleinen Bruder auf dem Gepäckträger, damit er nicht petzt, und schon fährt sie, »als hätte man ihr eine Sauerstoffblase ins Gehirn geschleust und ihren Defekt korrigiert«. Ein paar Glücksmomente, dann ein Aufprall. Als sie sich umdreht, liegt ihr Bruder bewusstlos am Boden.
Die Zeit wird es zeigen, der achte Roman der israelischen Schriftstellerin Mira Magén, setzt einen Monat nach diesem Unfall ein. Der kleine Tom liegt im Koma, die Eltern sind oft im Krankenhaus und Anna wird von ihren Schuldgefühlen niedergedrückt und schweigt. »Am liebsten würde sie sich ein Schild an die Stirn heften: Wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, und nichts mehr wissen.« Nur Edisso vertraut sie sich nach einiger Zeit an. Der 15-jährige Äthiopier kümmert sich in Abwesenheit der Eltern um den Imbiss. Zwi- schen Anna, die so klein und dürr wie eine Neunjährige ist, und dem Einwanderer, der in der ärmlichen Siedlung am Stadtrand für seine Mutter und vier Geschwister sorgt, entsteht im Laufe des Sommers eine vielschichtige Freundschaft. Mira Magén versteht es meisterlich, das Große im Kleinen aufscheinen zu lassen: ein sorgfältig abgewägter Satz, ein vorsichtiger Blick, eine helfende Hand. Allein, wie sie die zarte Annäherung zwischen Anna und Edisso beschreibt, macht dieses Buch zum Erlebnis.
Magéns Literatur spiegelt die Einflüsse ihrer haredischen Kindheit. Zugleich hinterfragen ihre Figuren, wie die Autorin, die Regeln des orthodoxen Lebens. Viele ihrer Protagonisten sind zwischen Tradition und Moderne, Glaube und Sexualität hin- und hergerissen. Auch die Frage, was im Leben Zufall und was göttliche Vorsehung ist, wird in der permanenten Auseinandersetzung mit Gott diskutiert. Anna glaubt zum Beispiel, als Engel wäre ihr Schicksal noch viel härter gewesen. »Statt der Beine hätte ›Er‹ ihr die Flügel genommen. Und hätte sie wissen wollen, wieso, hätte er sie davor gewarnt, wie die Menschen ihr kurzes Leben mit Fragen zu vergeuden, die ihren Verstand überstiegen.« In diese Versuchung kommt Mike selten. Er und Cheli sind nicht sehr gläubig, auch wenn die Religion ihr Denken geprägt hat. Manchmal streiten sie heftig, ihre tiefe Liebe und ihr Vertrauen zueinander geben ihnen jedoch so viel Sicherheit, dass sie einander alle Freiheiten erlauben. Auch ihre Kinder versuchen sie kaum zu kontrollieren. Mikes unstillbarer Hunger nach Leben hat etwas Kindliches. Zu seiner Frau sagt er: »Das Leben ist ein Buffet, Cheli, nimm dir, worauf du Lust hast, alles frei, auf Kosten des Hauses.«
Die Zeit wird es zeigen wird aus wechselnder Perspektive erzählt: Neben Mike, Cheli und Anna kommen Edisso und Chelis Schwester Sara zu Wort. Sara lebt mit ihrem strenggläubigen Mann in den besetzten Gebieten, spricht sogar beim Aufwachen nach einer Fehlgeburt in Psalmen und ist für Mike die Kehrseite seiner Frau, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Trotz der Unterschiede, was Religiosität, Freiheitsdrang, Nationalgefühl und politische Einstellungen angeht, kommen alle ganz gut miteinander aus. Die familiären Bande, denen man bei Magén nicht entkommt, gekoppelt mit Liebe und Demut, machen’s möglich. Mira Magén verleiht ihren Figuren die Fähigkeit, sich nicht zu wichtig zu nehmen. Der stundenlange Anblick von Meer und Himmel am Strand, deren Weite und Unergründlichkeit, führen Cheli, Mike, Anna und Edisso immer wieder die Begrenztheit des menschlichen Daseins vor Augen.
Magéns poetische, bilderreiche Sprache ist dem Sommergefühl entsprechend leicht und luftig. Trotz der Schicksalsschläge, die Chelis und Mikes Familie erleidet, ist es ein heiterer Roman. Gedanken an Krankheit und Tod, Ängste und Glaubenszweifel verschmelzen unter der Sonne Israels mit flirrender Erotik, Liebe und Fürsorge und großer Lebenslust. Jeannette Villachica
Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. dtv, München 2010, 400 S., 14,90 €