von Schimon Staszewski
Die Zahl ist bedrückend: Jährlich sterben in Deutschland schätzungsweise 1.000 Menschen, denen mit einer rechtzeitigen Organtransplantation hätte geholfen werden können. Doch es mangelt an Spendern. Derzeit gilt hierzulande eine Zustimmungsregel: Ein Spender muss noch zu Lebzeiten (oder Angehörige nach seinem Tod) ausdrücklich der Organentnahme zustimmen. Das ist nur selten der Fall.
Der Nationale Ethikrat, ein Beratungsgremium der Bundesregierung, hat nun vorgeschlagen, zum einen mehr potenzielle Spender zu gewinnen, und zum anderen stufenweise eine sogenannte Widerspruchslösung einzuführen. Der Staat soll aktiv werden, um möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Zu- stimmung oder ihre Ablehnung zu einer Organentnahme zu erklären. Damit würde künftig nur noch selten Unklarheit über den Willen der Verstorbenen herrschen. In diesen Fällen soll die Entnahme aber per Gesetz ausdrücklich erlaubt werden. Es sei denn, die Angehörigen würden Einwände erheben. Über die Parteigrenzen hinweg haben viele Politiker diesen Vorschlag abgelehnt. Sie sehen in ihm einen eklatanten Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Es geht also um Leben und Tod, Moral und Medizin, Ethik und Erkenntnis.
Laut jüdischem Recht ist der Körper zu Lebzeiten Besitz des Menschen. Diesem »Besitzrecht« sind jedoch Grenzen gesetzt. So verbietet die Tora zum Beispiel Selbstmord und selbst zugefügte Verletzungen ebenso wie sich selber in vermeidbare Gefahren zu begeben. Ähnliches gilt auch für den toten Körper, der als früherer Sitz der Seele respekt- und würdevoll behandelt werden muss. Schon Rabbiner David ben Zimra (Radbaz, 16. Jhd.) weist darauf hin, dass ein Mensch auch Risiken auf sich nehmen kann und darf, um einem anderen Menschen in Not zu helfen – allerdings unter der Voraussetzung, dass er sich selbst dabei nicht in Lebensgefahr bringt.
Umso mehr gilt dies, wenn es darum geht, Leben zu retten. Das hat im jüdischen Recht eine derart herausragende Bedeutung, dass in solchen Ausnahmesituationen die meisten Ge- und Verbote aufgehoben werden. Deshalb ist es eine gottgefällige Tat, eine Mizwa, Organe zu spen- den, um damit einen anderen Menschen vor dem Tod zu bewahren.
Aber wie verhält es sich mit Widerspruch und Zustimmung zu solch einem Schritt? Der Talmud gibt dem Menschen ein hohes Maß an Verantwortung und Autonomie über seinen Körper. Deshalb muss seinen Wünschen gemäß gehandelt werden. Dies kann beides bedeuten: eine Organentnahme nach dem Tod bejahen oder sie verneinen. Wenn ein Mensch sich fragt, ob er zum Beispiel seine Leber oder Niere zur Verfügung stellen soll, um womöglich ein anderes Leben zu retten, könnte man ihn nach rabbinischer Auffassung einerseits dazu ermutigen. Andererseits sollte man dem Betreffenden nicht einreden, einen Organspendeausweis zu unterschreiben oder bei sich zu haben. Nach Ansicht der Gelehrten können solche Formulare das seelische Gleichgewicht des Menschen stören, da er sich mit einer Situation auseinandersetzen müsste, auf die er sich nicht vorbereiten kann.
Für viele Familienangehörige ist die Vorstellung unerträglich, dass dem Verstorbenen Organe entnommen werden und dieser dabei nicht würdevoll und mit Respekt behandelt wird. Als Interessenvertreter des Toten müssen sie seinem Willen Geltung verschaffen (falls er sich dazu geäußert hat), also dafür sorgen, dass seine Organe gespendet werden, oder dies verhindern. Das Recht des Menschen, auch nach dem Tod über seinen Körper zu bestimmen, darf grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Ein Widerspruch zum Votum des Ethikrats.
Und was ist, wenn über den Willen des Verstorbenen nichts bekannt ist? Dann sollte die Familie einer Organspende zustimmen, weil die Rettung eines Lebens höher bewertet werden muss als die Pflicht, den Toten und damit auch seine Organe zu beerdigen.
Der Autor, 53 Jahre alt, ist Arzt für Allgemeinmedizin.