von Katharina Born
»Da ist Rozenthal«, ruft einer. Mit riesigen Sporttaschen über dem Rücken und den Hockeyschlägern in der Hand gehen zwei junge Männer in Jeans, T-Shirt und Sonnenbrillen an der Zuschauerschlange vorbei. »Und wo ist der andere?« fragt eine Frau. »Die haben nur einen«, sagt der Mann. »Jetzt geh schnell hin, Baptiste«, stößt ein Vater seinen Sohn an. Doch bis der Kleine losgeht, ist François Rozenthal, der Zweitgeborene der berühmten Rozenthal-Zwillinge, schon in der Kabine verschwunden.
Daß nur einer der beiden auftauchte, ist tatsächlich neu. »Wo ein Rozenthal ist, läßt der andere nicht lange auf sich warten«, schrieb ein Kommentator in einer französischen Eishockeyzeitschrift, als Anfang des Jahres der nordfranzösische Club Amiens mit François als rechtem Angreifer gegen den Alpenverein Villard-de-Lans mit Maurice Rozenthal am linken Flügel antrat. Maurice ermöglichte den ersten Vorstoß seines Vereins auf das gegnerische Tor. Auch der nächste Spielzug war eindrucksvoll – allerdings von seinem Zwillingsbruder. »Das war schon immer so«, sagt François, »Wir haben eine Art natürliches Konkurrenzverhalten. Sobald der eine aufstand, um seine Hausaufgaben zu machen, hielt es der andere nicht mehr vorm Fernseher aus und setzte sich auch an die Arbeit. Wir motivieren uns gegenseitig. Das ist unsere Stärke.«
Inzwischen sind die Rozenthal-Zwillinge 31 Jahre alt. Trotz ihres Alters sind sie noch immer für ihre Schnelligkeit und ungewöhnliche Kreativität bekannt. Auch wenn sie nicht mehr häufig gemeinsam spielen. Maurice wurde noch in diesem Jahr zum besten Eishockeyspieler Frankreichs gewählt. François war bei der vergangenen B-Weltmeisterschaft Frankreichs bester Stürmer. In Fachkreisen heißt es, François stehe wegen einiger unglücklicher Verletzungen – zuletzt einer Operation am Meniskus – im Schatten seines Bruders.
Die Zwillinge waren zweineinhalb Jahre alt, als ihre Eltern ihnen das erste Mal Schlittschuhe anschnallten. »Irgendwie waren wir schon immer auf dem Eis«, sagt François. Schuld an der frühen Begeisterung der Zwillinge für den Sport war der große Bruder, dem sie beim Spielen zusahen. Schon mit nicht einmal sechs Jahren bekamen die Zwillinge eine Wettbewerbslizenz als jüngste Mitglieder in ihrem ersten Verein in Dünkirchen. François spielte bald rechts im Angriff, Maurice links. Die zwei »kleinen Mozarts«, wie sie bald genannt wurden, traten überall gemeinsam auf, und nur dank der Nummern auf ihren Trikots konnte man sie auf dem Eis auseinanderhalten.
Als sie mit 19 Jahren nach Reims wechselten, teilten sie sich eine Wohnung. »Unsere Bedingung war, daß wir beide einen Vertrag bekämen«, sagt François. »Aber das war auch nicht schwierig. Alle wollten uns ja immer als Zwillinge. Das gefällt dem Publikum. Wir sehen uns nicht nur sehr ähnlich. Wir können uns auch Pässe mit geschlossenen Augen zuspielen.«
Im selben Jahr wurde Maurice, der Erstgeborene, mit 19 Jahren in die französische Nationalmannschaft berufen. François folgte ein Jahr später. Gemeinsam wechselten sie nach zwei Jahren nach Lyon, gingen dann für vier Jahre nach Amiens, wo sie zugleich ein zweijähriges Sportstudium absolvierten. Schließlich unterschrieben die Rozenthals im schwedischen Umea. Dort trennten sich ihre Wege erstmals: Der Verein Björklöwen verlängerte nach einer Saison den Vertrag für Maurice. Doch François sollte in einer niedrigeren Liga spielen. Da entschied er sich, zurück nach Amiens zu gehen.
Mit 26 Jahren, sagt François, sei die Trennung schließlich kein Problem gewesen. »Wenn wir zusammen sind, freuen wir uns und verstehen uns gut«. Und doch war es während der Weltmeisterschaft im Frühjahr enttäuschend, erzählt Maurice, daß er mit seinem Bruder nicht im selben Block spielte. »Ich würde in vier bis fünf Jahren gerne gemeinsam mit Maurice aufhören«, sagt François. »Aber im Moment geht es ihm gut, wo er ist. Mir geht es auch gut, wo ich bin. Das zu wissen ist für uns wichtig.«
Für ihren Club bestreiten die Zwillinge etwa 30 Spiele pro Saison. Fürs Nationalteam kommen noch einmal 20 dazu. François trainiert jeden Morgen von 9 bis 12 Uhr. Nachmittags und oft bis in den späten Abend hinein besucht er die Kurse der Wirtschaftshochschule. Maurice will in diesem Jahr ein Studium der Ernährungswissenschaft beginnen. »Man wird als Eishockeyspieler nicht so gut bezahlt wie die Fußballer«, sagt François. »Man muß nach dem Karriereende sehen, wo man bleibt.«
Daß seine zweijährige Tochter Carla einen Sport wie Eishockey ergreift, hofft François derweil nicht. Einmal habe er seine Mutter auf der Zuschauertribüne beobachtet, wie sie bei jedem Zusammenprall ihrer Söhne zusammengezuckt ist. Dabei gehört der Sport nun schon lange zur Familie Rozenthal. Außer dem großen Bruder ging auch der Vater in seiner Freizeit aufs Eis. Philippe Rozenthal, der in Dünkirchen ein Bekleidungsgeschäft führte, starb, als die Zwillinge zwölf Jahre alt waren. Er stammte aus einer polnisch-jüdischen Familie, die fast gänzlich von den Nazis deportiert und ermordet worden ist. Rozenthal selbst konnte flüchten. »Mein Vater hat nie viel darüber gesprochen, was er auf der Flucht erlebt hat, aber es hat ihn natürlich sehr geprägt, was mit seiner Familie geschehen ist«, erklärt François. »Schon deshalb fühlen wir uns mit der Geschichte der Juden verbunden«. Längst sind beide in die »Hall of Fame« des jüdischen Sports im Internet aufgenommen.
In der Eissporthalle des Pariser Vororts Asnières ist die Spannung inzwischen auf dem Siedepunkt. Scharfer Schweißgeruch weht vom Eis herüber. Fünf Tore sind bereits gefallen. Das erste hat François geschossen, das zweite vorbereitet. Während manche Spieler behäbig wirken, scheint François Rozenthal abzuheben, wenn er aus dem Stand beschleunigt, sich dreht und mit dem Schläger einen störenden Schiedsrichter beiseite drängt.
Am Ende des Gala-Matchs zugunsten eines Kinderkrankenhauses ziehen die Fans erregt ab. »Die Rozenthal-Zwillinge«, schwärmt der Vater vor seinem Sohn Baptiste noch im Gehen, »die habe ich schon Tore schießen sehen, als sie noch in Dünkirchen in der Kinderliga gespielt haben. Da waren die so alt wie du«. Inzwischen seien sie zwar alles andere als jung. »Aber wenn man sie zusammen sieht, dann ist das noch immer etwas Besonderes. Die wissen genau, was der andere als nächstes macht. Das ist denen ins Blut übergegangen. Das ist reine Zauberei.«