Nach zwei Infarkten und einem Schlaganfall hat mir der Arzt gesagt, ich sei ein Kandidat fürs Jenseits. Doch so schnell will ich nicht sterben. Weil ich glaube, dass Bewegung gut für die Gesundheit ist, fahre ich viel mit meinem Fahrrad. Es wiegt nur sieben Kilo. Ich kann es inzwischen sogar schon wieder allein die Treppe hinuntertragen. In der Regel kurve ich durch Hennef, wo ich seit sechs Jahren lebe. Ich fahre so, wie die Gesundheit es eben erlaubt: von einem Kiosk zum anderen. Manchmal radle ich aber auch bis Bonn oder den Rhein entlang. Klar, zwischen Hennef und dem Rhein liegt das Siebengebirge: Da geht’s rauf und runter. Zuerst schaue ich auf die Karte, um die günstigste Strecke auszusuchen. Wenn ich einen Weg einmal gefahren bin, dann weiß ich, wo es einen Kiosk gibt, in dem ich etwas trinken kann, auf welchem Hügel eine schöne Parkbank mit Aussicht steht und wo ich mich beim Regen verstecken kann.
Als junger Mann war ich Heizer, ich habe meinen Schulabschluss in der Abendschule gemacht. Später studierte ich Ingenieurwissenschaften mit dem Schwerpunkt Landwirtschaft. Meine Diplomarbeit habe ich über Traktoren geschrieben. Seit dieser Zeit liebe ich die Technik – in jeglicher Form: egal, ob Traktor, Mähdrescher oder Auto. Fast so viel wie Technik liebe ich allerdings die Poesie. Mein Lieblingsdichter ist Heinrich Heine: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«. Ich lerne die Gedichte auswendig und übe, jedes Wort deutlich auszusprechen. Seit dem Schlaganfall habe ich Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Ich habe Heines Gedichte auch ins Russische übersetzt – ohne auf die vorherigen Übersetzungen zu gucken! Immer, wenn es geht, besuche ich den Literatursalon an der Bonner Synagoge. Schade eigentlich, dass sich heute nur wenige Leute für Poesie begeistern. Aber man kann ja auch nicht an Gedichte denken, wenn man am Computer sitzt.
Als ich ein kleiner Junge war, gab mir mein Großvater ein Messer und ein Stück Holz. Daraus schnitzte ich Pfeifen und bald darauf Schiffchen. Hier in Deutschland und seit meinem Schlaganfall bin ich in vielen Dingen unnütz. Was kann man von einem Behinderten auch erwarten? Aber ich kann immer noch den Kindern etwas beibringen: nämlich, wie man Modelle baut. Ich nehme kein Geld dafür. Hauptsache, die Kinder und Eltern haben wirkliches Interesse. Dann sind sie alle zufrieden: Das Kind wird sogar besser in der Schule, es wird sich vielleicht für einen technischen Beruf entscheiden. Und es kann jüngeren Kindern Vorbild und sogar Lehrer sein.
Ich kann das überall machen, wo es ein bisschen Platz gibt, auch auf der Straße. Ich komme aus Sibirien, mir macht die Kälte nicht viel aus. Ich brauche nur etwas Platz zum Schleifen, Feilen und Bemalen. Das kleine Flugzeug hier – bald wird es fliegen. Ja, wenn ich dem Kind helfe, wird das Flugzeug fliegen und das Boot schwimmen. Das U-Boot wird untertauchen und wieder auftauchen. Wenn es nicht wieder auftaucht, dann haben wir einen Fehler gemacht. Und wenn unser Flugzeug abstürzt – dann reparieren wir es! Wenn wir ein Auto bauen, dann wird es fahren. Sollte ich dieses Versprechen nicht einhalten, wird das Kind keinen Respekt vor mir haben.
Den Kindern den Modellbau beizubringen, ist wie Geigenunterricht. Ich ziehe eine Linie, das Kind zieht eine. Es soll lernen zu sehen, zu hören und nach dem Kommando des eigenen klugen Kopfes zu handeln. Ich würde gern mehr Schüler haben, aber manchmal sagt die Gesundheit: Halt, geht nicht! Zumindest versuche ich, jede Woche mit den Kindern zu arbeiten. Gleichzeitig kann ich momentan nur drei betreuen, und das auch nur, wenn der ältere Bruder dem jüngeren hilft.
Früher habe ich in Krasnojarsk den Modellbau bei der Kinderflussschifffahrt am Jenissej geleitet. Ich hatte insgesamt um die 1.500 Schüler, sie kamen jeden Tag zu mir in die Werkstatt. Jeder hatte seinen Arbeitsplatz und sein Modell. Jeder kannte seine Aufgaben und wusste, wie es weitergeht. Wir haben mehrere Medaillen gewonnen, und viele dieser Kinder sind später Ingenieure oder Kapitäne geworden. Ich bekomme bis heute Postkarten von ihnen.
Jetzt habe ich einen Schüler, der geht in die 4. Klasse. Er ist klein und trägt eine Brille. Unsere Arbeit ist so, dass man basteln und gleichzeitig miteinander reden kann. Er kann nur Deutsch, also reden wir Deutsch. Der Junge hat mir erzählt, dass er eine erwachsene Schwester und einen sechs Jahre jüngeren Bruder hat. Wenn er mit mir Schiffe und Flugzeuge baut, dann will er die ersten dem Brüderchen schenken, weil das viel besser ist als jedes gekaufte Spielzeug. Dann schenkt er eins der Mama zum Geburtstag. Und wenn wir es schaffen, noch mehr zu bauen, dann bekommt eins auch seine Lehrerin und vielleicht eins die große Schwester.
Ich bin ein glücklicher Mensch, mir schenkt Gott öfter unerwartete Begegnungen. Meine neue Kran-kengymnastin hat denselben Familiennamen wie mein Schüler. Sie ist ungefähr 20 Jahre alt, und ich habe sie gefragt, ob sie seine große Schwester sei. Das war sie nicht, aber jetzt grüßt sie mich immer ganz nett auf Russisch mit »Dobryj den«.
Ich gehe auch zu einer Familie mit zwei Jungs. Der Kleinere ist zehn, und von der ganzen Technik interessieren ihn nur die U-Boote. Sei’s drum, bauen wir eben ein U-Boot. Der Ältere wollte gar nichts mit mir zu tun haben, er meinte, mit 14 sei das zu albern. Aber er hatte von seinem Vater ein Modellflugzeug geschenkt bekommen. Er hat es fliegen lassen, und es ist abgestürzt. Was tun? Nun, reparieren und üben, damit es nicht wieder passiert. Ich bin mit ihm zum Feld hinter dem Fluss gegangen, wo man solche Flugzeuge fliegen lässt. Sie funktionieren mit einer Fernbedienung per Funk: Man kann Befehle eingeben, die werden dann elektronisch in Bewegung umgewandelt: nach oben, nach unten, nach links, nach rechts. Auch der Unerfahrene kann sie fliegen lassen, der Computer hilft ihm. Ein Bekannter hat uns seine Fernbedienung ausgeliehen und richtig eingestellt, sodass der 14-jährige Junge sein Flugzeug fliegen lassen konnte – bis ihm der Treibstoff ausging. Dann hat er es sanft landen lassen.
Solch ein Apparat kostet, wenn man auch Unter-richt im Verein nimmt, um die 1.000 Euro. Für den Papa von diesem Jungen sind 1.000 Euro aber viel zu viel Geld. Ich habe dem 14-Jährigen gesagt: Dein jüngerer Bruder hat schon viel gelernt, seine Hände sind geschickt. Wenn du mit mir arbeitest, wirst du selbst Modelle bauen und am Computer den Flug berechnen können. Aber nur unter einer Bedingung: Du musst Geduld haben. Geduld! Ich kenne vielleicht 100 Jungen hier, aber von diesen 100 kann ich die Geduldigen an einer Hand abzählen.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda