von Katrin Richter
Irgendetwas passt nicht. Es ist die Uhr. Sie ist zu sportlich – fast zu wirklich. Überhaupt stellt man sich Philosophinnen vielleicht anders vor. Martha C. Nussbaum jedenfalls könnte ganz klar auch als eloquente Unternehmensberaterin durchgehen. Alles sitzt. Die Frisur, das tiefblaue Kostüm. Selbst die eleganten schwarzen Sandalen mit den breiten Riemen, die sie an diesem Tag, bei Temperaturen weit unter Null, trägt, sind perfekt aufeinander abgestimmt.
Aber Martha C. Nussbaum auf ihr Styling zu reduzieren, wäre, gerade wenn man ihr Arbeitsgebiet kennt, ungerecht. Denn die 62-Jährige zählt zu den wichtigsten Philosophinnen des 21. Jahrhunderts. Sie gilt als die Autorität, wenn es um die Ethik rechtlicher Fragen geht, auch unter feministischem Gesichtspunkt, und sie hat die Ernst-Freund-Professur an der Universität von Chicago inne. Zu ihren viel ge-
achteten Publikationen zählen philosophische Standardwerke, wie Gerechtigkeit oder das gute Leben oder Liberty of Conscience. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality.
Unter all ihren Ehrungen ist seit vergangenem Dienstag auch der A.SK Science Award, der im Berliner Wissenschaftszentrum verliehen wurde. Dieser Preis, der seit 2007 alle zwei Jahre vergeben wird und mit 100.000 Euro dotiert ist, zählt zu den höchsten Auszeichnungen im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften und würdigt Arbeiten, die einen Beitrag zu gesellschaftlichen und politischen Reformen leisten. Das hört sich sehr abstrakt an, ist es aber gar nicht. Denn Nussbaum arbeitet in ihren Werken mit vielen Beispielen aus der Praxis. Ihr ist es wichtig, dass sie ihre gesellschaftspolitischen Ansätze vermitteln kann.
Wenn sie beispielsweise von dem Fall einer Fabrikangestellten berichtet, die in den 60er-Jahren arbeitsvertraglich dazu gezwungen werden sollte, sonnabends zu arbeiten, obwohl sie den Siebenten-Tags-Adventisten angehörte und deswegen geklagt hatte, dann ist Nussbaum in ihrem Element. Denn ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Verhältnis von Religion und sozialer Gerechtigkeit. Ab wann werden religiöse Gruppen diskriminiert und wo beginnt Religionsfreiheit? Nussbaum selbst konvertierte vor ihrer Hochzeit zum Judentum und hat sich seitdem intensiv mit religiösen Fragen auseinandergesetzt. »Für mich war die Konversion selbstverständlich«, sagt die gebürtige New Yorkerin mit ihrer dunklen, kräftigen Stimme.
Wenn sie beispielsweise erklärt, warum auch Atheisten gegen aufkommende Religiosität, wie das Morgengebet an Schulen, demonstrieren oder wenn sie Passagen aus philosophischen Werken des 19. Jahrhunderts aus dem Gedächtnis abruft, dann spricht Nussbaum so schnell und leidenschaftlich, dass sie am Ende etwas außer Atem ist.
Nur bei der Frage, was sie davon hält, dass es, wie kürzlich in einer britischen atheistischen Werbekampagne in London an Bussen zu lesen war, »wahrscheinlich keinen Gott gibt«, muss Martha C. Nussbaum überlegen. Davon hatte sie nämlich noch nichts gehört. Und so ganz spontan fällt ihr dazu auch nichts ein.