von Suzanne Belling
Die Euphorie, die nach den ersten demokratischen Wahlen Südafrikas 1994 alle Teile der Bevölkerung durchdrang, ist nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Thabo Mbeki einem weitverbreiteten Pessimismus gewichen. Mbeki, unter dem die Wirtschaft florierte und der zur jüdischen Gemeinde ein gutes Verhältnis hatte, wurde Ende September nach lang andauernden internen Streitigkeiten von seiner eigenen Partei zum Rücktritt gezwungen.
Seit der umstrittene Jacob Zuma Ende vergangenen Jahres auf dem Parteitag zum Präsidenten des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) gewählt wurde, denken viele Juden daran, das Land zu verlassen. Jahrelang hatte sich die jüdische Auswanderung aus Südafrika bei einer bestimmten Zahl eingependelt. Doch seit einigen Wochen steigt sie stetig an. Exakte statistische Angaben gibt es nicht, weil die Emigranten in der Regel nicht offiziell erklären, dass ihre Ausreise für immer ist. Doch das Israel Center bei der South African Zionist Federation verzeichnet bei der Auswanderung nach Israel eine 300-prozentige Zunahme im Vergleich mit dem vergangenen Jahr.
Von den rund 500 Menschen, die das Land vermutlich noch in diesem Jahr in Richtung Israel verlassen, werden viele mit Charterflügen ausreisen. Sie wurden organisiert, um den gestiegenen Zahlen gerecht zu werden. Ofer Dahan, Leiter des Israel Centers und Alija-Beauftragter, nannte den ersten dieser Flüge ein »historisches Ereignis«. Für einen Flug im nächsten Jahr gebe es bereits eine Warteliste, sagt Dahan. »Die Gemeinde der südafrikanischen Juden ist heute eine der besten zionistischen Gemeinden der Welt.«
Doch auch andere Zielländer stehen bei Südafrikas Juden hoch im Kurs: Seit 2000 ging beinahe die Hälfte der Emigranten nach Australien (44 Prozent). Danach folgen die Vereinigten Staaten (18 Prozent), und erst dann kommt Israel mit zwölf Prozent. Auf Platz vier der Liste der Auswanderungsziele steht Kanada mit derzeit neun Prozent. Seit den 70er-Jahren ist die jüdische Bevölkrerung Südafrikas von rund 120.000 auf derzeit etwa 75.000 gesunken.
Dass immer mehr Menschen das Land verlassen wollen, beunruhigt führende jüdische Vertreter. »Keine Panik!«, appellieren sie an die Mitglieder der Gemeinden. Zev Krengel, Vorsitzender des Jewish Board of Deputies, der im September mit ANC-Präsident Jacob Zuma zusammentraf, sagt: »Der ANC hat seine Politik gegenüber Minderheiten in diesem Lande nicht geändert. Mbeki hatte für uns stets ein offenes Ohr, und auch Zuma ist sehr aufgeschlossen. Der ganze Prozess gehört zu unserer Demokratie und zur Umwandlung unseres Landes, was immer ein gewisses Ausmaß an Unsicherheit schafft, so wie überall sonst auch.«
Am 25. September hat das südafrikanische Parlament Kgalema Motlanthe, Zumas Stellvertreter im ANC, zum neuen Präsidenten des Landes gewählt – eine inoffizielle Interimsposition, bis Zuma selbst, so wird erwartet, nach den allgemeinen Wahlen in der ersten Jahreshälfte 2009 die Geschäfte übernehmen wird.
»Motlanthe ist gesellschaftlich und auch zu offiziellen Anlässen mit den Gemeindeführern zusammengetroffen. Sie mögen ihn«, sagt David Saks, Vizepräsident des Jewish Board of Deputies, des Dachverbands der jüdischen Gemeinden des Landes. Wenn die Leute mit Sorge auf Zuma als Motlanthes Nachfolger blicken, habe das mehr mit seinen Anhängern zu tun – dem korrupten Mob, so Saks.
»Mbekis Rücktritt ist nur ein weiteres Bauernopfer in dem Gerangel um Macht, zu dem die Politik in unserem Land verkommen ist«, sagt Ruth Rabinowitz, Parlamentsabgeordnete für die Inkatha Freedom Party. »Die Regierung und die hierarchischen Strukturen haben ein verworrenes politisches System mit vielen Dopplungen hervorgebracht – daher diese extreme Ineffizienz, dieser außerordentliche Mangel an Transparenz und Berechenbarkeit. Geld, Macht und Populismus sind zu den Markenzeichen unseres Landes geworden.«
Viele Menschen haben deshalb das Vertrauen in das Land verloren. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um Südafrika«, sagt Galia Durbach, frühere Bankdirektorin, die im Oktober mit ihrem Mann Steve und zwei kleinen Kindern nach Australien ausgewandert ist. »Ich kann bislang nicht erkennen, dass die neue Führung die Kernprobleme wirklich anpackt.« Fundamentale Probleme sieht Durbach »bei der Bildung und der Armutsbekämpfung, was zur hohen Kriminalitätsrate beiträgt«. Würden diese Probleme endlich »auf realistische Weise angepackt, könnte ich mir vorstellen, nach Südafrika zurückzukehren«, sagt sie.
Auf einer lokalen jüdischen Website ist die Zahl der Anzeigen, in denen Auswanderungswillige Möbel und Hausrat anbieten, rasant gestiegen, seit offiziell ist, dass Zuma das Ruder übernehmen wird. Aber eine große chassidische jüdische Gemeinde in Südafrika bleibt an Ort und Stelle. »Wir haben zahlreiche explosive Situationen erlebt, die wie durch ein Wunder auf friedliche Weise gelöst wurden, weil wir es zuließen, dass die Demokratie ihren Lauf nimmt«, sagt Rabbi Shabsy Chaiton, Verwalter der von Chabad geführten Tora-Akademie.
Mish Myers, 29, Personalberaterin für Finanzdienstleistungen, lebt seit zwei Jahren in London. Sie sei ausgewandert auf der Suche nach einer besseren Zukunft, sagt sie. »Ich lebte in permanenter Angst vor den Überfällen, den Autodiebstählen, Vergewaltigungen und der hohen Kriminalitätsrate.« In London fühle sie sich sicher, aber sie würde sofort zurückkehren, wenn die Kriminalität unter Kontrolle und die Lage im Land stabil wären. »Südafrika ist der beste Ort der Welt. Wo anders gibt es ein so schönes Land, das alles hat – das Meer und Berge?«