Emil-Fackenheim-Preis

Das Gedächtnis von Halle

von Steffen Reichert

Ihre größte Angst ist, dass sie es nicht mehr schaffen könnte. »Ich muss das doch noch fertigbekommen«, ist einer dieser Sätze, den man von Gudrun Goeseke immer wieder hört. Leise, bestimmt und auch mit schwankender Hoffnung in der Stimme spricht sie ihn aus. Und wenn sie ihn sagt, dann sitzt diese kleine, zierliche und von Krankheit gezeichnete Frau in ihrem Sessel und zeigt zugleich auf die Stapel von Papieren, die sie um sich herum ausgebreitet hat. Es sind Kopien und Durchschläge von vor Jahrzehnten mit der Post verschickten jüdischen Lebensläufen. Es sind Stapel von Deportationslisten und leidvollen Briefwechseln. Ihr Aufgabeort ist Halle, die Stadt an der Saale, in Sachsen-Anhalt.
101 »Stolpersteine« sind inzwischen in der Innenstadt von Halle verlegt worden. Man kann sicher sein, dass nicht einer dort läge, wenn es Gudrun Goeseke nicht gäbe. Und weil das so ist, weil die 82 Jahre alte Frau das Erinnern in der Saalestadt gegen Widerstände und Gedankenlosigkeit stets wachgehalten hat, ist sie jetzt mit dem renommierten Emil-Fackenheim-Preis der Jüdischen Gemeinde zu Halle ausgezeichnet worden. »Es ist eine große Freude für mich«, sagt sie bescheiden. Und »eine wunderbare Fügung, dass Gott sie auserwählt hat, das jüdische Archiv vor antijüdischem Zugriff zu retten«, nennt es Gemeindemitglied Max Schwab.
Man sagt, dass Archive das Gedächtnis einer Nation seien. Aber nicht nur das war und ist Antrieb für das Handeln der in Dresden geborenen Frau. Es ist im Frühjahr 1933 die Verhaftung des Vaters durch die Gestapo, die das Mädchen Gudrun geprägt hat. Es sind bei der Hausdurchsuchung herausgerissene Bücher, vernichtete Papiere und verbrannte Schriftstücke. Ein paar Jahre später hört das Kind, wie ein Besucher ihren Eltern von den unfassbaren Massenmorden an Juden in der Ukraine erzählt. Aus Augenblicken wie diesen, das wird der erwachsenen Gudrun Goeseke erst viel später klarwerden, entspringt ihre Kraft, sich gegen Unrecht aufzulehnen und zugleich alles zu tun, um die Vernunft voranzutreiben.
Nach dem Krieg beginnt Gudrun Goeseke mit ihrem Studium in Leipzig, das sie als Philologin abschließt. Sie lernt Akkadisch und Syrisch, Ugaritsch, spricht Türkisch und Syrisch. Eine Promotionsstelle erhält sie jedoch nicht – die DDR-Verantwortlichen haben an solchen Fächern kein sonderliches Interesse. So arbeitet Gudrun Goeseke schließlich in der Universitätsbibliothek, rettet wertvolle Bücher vor dem Verfall und betreut zugleich die Bibliothek der Morgenländischen Gesellschaft. Die Gesellschaft war zwar im Osten nach 1945 verboten worden und hatte sich daraufhin in Marburg niedergelassen, doch die Bibliothek blieb in Halle. Und es war ein Glücksfall, denn bis zum Erreichen ihres Rentenalters betreute Gudrun Goeseke diesen einzigartigen Bücherbestand.
Schon in den 70er-Jahren wohnt Gu-drun Goeseke mit ihrer Familie in Räumen der jüdischen Gemeinde. Wohnungen sind äußerst knapp in der DDR. Die Unterbringung dort ist deshalb für sie ein kleiner Glücksfall, vor allem aber Folge der Tatsache, dass ihre Familie von den Nazis verfolgt worden war. In jenen Jahren stößt Gudrun Goeseke im Keller unter alten Schutthaufen auf das Archiv der 300 Jahre alten jüdischen Gemeinde. Sie findet Dokumente, die von den Spuren der Ge-meinde, der Schoa, vor allem aber auch von der Gemeindevorsitzenden Karin Mylius berichten. »Was wollen Sie mit dem Zeug«, wird Gudrun Goeseke von ihr gefragt: »Die sind doch alle tot!« Doch Goeseke macht weiter, denn die Schreiben, die sie Seite um Seite findet, ordnet und für die Nachwelt sichert, machen auch deutlich, dass Karin Mylius gar keine Jüdin ist, sondern sich die Biografie angeeignet hat. Es beginnt nun ein zähes Ringen um die Wahrheit. Die wenigen noch lebenden Juden aus verschiedenen Gemeinden der DDR schalten sich ein und versuchen, über staatliche Stellen eine Klärung herbeizuführen. Umsonst. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden die bei den Verantwortlichen von SED und Staatssicherheit zuhauf gesammelten Informationen über die unglaublichen Vorgänge in Halle einfach ignoriert.
Erst mit dem Tod von Karin Mylius kommt es schrittweise zur Neuordnung der Verhältnisse in der Gemeinde – die zu diesem Zeitpunkt nur noch aus einem halben Dutzend Mitgliedern besteht. »Ich hatte ja immer die Sorge, dass nach dem Tod des letzten Gemeindemitglieds die aktive Geschichte des Judentums in Halle endet«, erzählt Gudrun Goeseke. Auch deshalb ist es ein Wettlauf mit der Zeit, als sie beginnt, die jüdischen Biografien der vor dem Holocaust 1.500 Mitglieder zählenden Gemeinde zu erforschen und zu dokumentieren. Dass es mit dem Zuzug vieler Juden aus der ehemaligen Sowjetunion einmal neues jüdisches Leben in der größten Stadt Sachsen-Anhalts geben würde, konnte die alte Dame damals noch nicht ahnen.
Was sie in Halle geschafft hat, ist bleibend. Das Archiv der jüdischen Gemeinde ist dauerhaft gerettet, und die »Stolpersteine« werden gemeinsam mit dem Verein Zeit-Geschichten Stein für Stein verlegt. Seit ein paar Tagen gibt es dazu auch eine Broschüre mit den Biografien von in Halle lebenden Juden. Preisträgerin Gudrun Goeseke ist ebenfalls erwähnt. Als Mitautorin im Impressum auf der letzten Seite. Ganz kleingedruckt, so, wie man es es von einer so bescheidenen Frau wie ihr fast erwartet.

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