Zum Oberrabbiner wird gewöhnlich ein Mann gewählt, der die Qualitäten eines Diplomaten besitzt – sonst kann er sich nicht lange im hohen Amt halten. Sir Jonathan Sacks (Jahrgang 1948), der seit 1991 als Chief Rabbi der United Hebrew Con-gregations of the British Commonwealth amtiert, beeindruckt nicht nur durch diplomatisches Geschick, sondern vor allem durch wissenschaftliche Analysen und schriftstellerische Leistungen. Der vielbeschäftigte Gelehrte hat in den vergangenen Jahren so viel publiziert – eines seiner Bü-
cher ist sogar ins Deutsche übersetzt worden (»Wie wir den Krieg der Kulturen noch vermeiden können«, vgl. Jüd. Allg. 31/07) –, dass man sich fragt, wann dieser Autor die Zeit zum Lesen und zum Schreiben findet. Auch und gerade in nichtjüdischen Kreisen haben die sozialphilosophischen Schriften von Sacks große Beachtung gefunden.
Soeben ist der erste von geplanten fünf Bänden seiner Tora-Lesungen erschienen. Das Buch Genesis wurde bekanntlich in zwölf Wochenabschnitte eingeteilt, und zu jedem dieser Abschnitte hat Sacks vier oder fünf Essays geschrieben, die sich alle durch Originalität auszeichnen. Wie Sacks in seiner Einleitung darlegt, behandelt das erste Buch des Pentateuchs zentrale Fragen der Philosophie, und zwar nicht in einer philosophischen Sprache, sondern in einer Erzählform. Es ist lehrreich, wie Sacks in den bekannten Geschichten der Tora philosophische Aussagen aufdeckt. Der Autor kennt selbstverständlich die klassischen jü-
dischen Kommentare (Midraschim, Raschi, Maimonides und andere), aber er zitiert auch ohne Berührungsängste zahlreiche moderne Philosophen, Theologen und Psychologen.
Die Vorgehensweise des Autors sei hier an einem kleinen Beispiel verdeutlicht. Sacks diskutiert die Namensänderung von Jakob: »Da sprach er: Nicht Jakob soll fortan dein Name heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen ge-
kämpft und hast gesiegt« (1. Buch Moses 32,29). Diese Namenswahl stimmt nachdenklich. Bevor Sacks ausführt, dass gerade der Name Israel die Eigenart des jüdischen Strebens in der Welt kennzeichnet, lässt er den christlichen Denker Nikolai Berdyaev zu Wort kommen, der die Juden deshalb kritisierte, weil sie versuchen, Wahrheit und Gerechtigkeit in dieser Welt zu realisieren, was Berdyaev für eine un-
mögliche Unternehmung hält. Sacks erläutert dann die These von Karl Marx, Religion sei Opium für das Volk; diese Kritik trifft tatsächlich die Religionsauffassung von Menschen, die nur auf eine bessere Welt im Jenseits hoffen. Juden aber geben die Hoffnung auf eine positive Entwick-
lung in dieser Welt aus Prinzip nicht auf. Sie kämpfen unentwegt für eine Verbesserung der Zustände im Diesseits. Judentum ist eine Religion des Protests gegen alle Formen des Götzendienstes und des Totalitarismus. So erweist sich der Name »Israel: der mit Gott und Menschen gekämpft« als programmatisch, als eine Verpflichtung für die Nachkommen Jakobs.
In unseren Tagen bezweifeln nicht we-
nige Akademiker die Relevanz der überlieferten Tora-Literatur für unser modernes Leben. Die philosophischen Tora-Lesungen von Sacks sind ein sehr wertvoller Beitrag zum Kampf gegen weit verbreitete irreführende Meinungen, die sich bei näherer Be-
trachtung oft als das Ergebnis eines mangelhaften Religionsunterrichts herausstellen. Yizhak Ahren
Tora-Betrachtungen