von Wladimir Struminski
Selten mußte ein Regierungschef so kurz nach seinem Amtsantritt so radikal von seinen politischen Plänen abweichen wie Ehud Olmert. Wäre es nach den Vorstellungen des im April diesen Jahres vereidigten israelischen Premiers gegangen, würde er heute den israelischen Rückzug aus dem Westjordanland vorantreiben, Geheimverhandlungen mit den Siedlern führen, um einen friedlichen Abzug zu ermöglichen und mit dem Generalstab der Zahal über einer Liste der zu räumenden jüdischen Orte in Judäa und Samaria brüten. Statt dessen dirigiert der militärisch eher unerfahrene Ministerpräsident, der während seines lange zurück- liegenden Wehrdienstes Korrespondent einer Armeezeitung war, einen Abwehrkrieg gegen Hisbollaheinheiten im Libanon, die mit Raketen nach Israel schießen und läßt die Armee in Gasa aufmarschieren.
Die Aufgabe bei dem Zweifrontenkrieg gleicht den Künsten eines Jongleurs. Olmert muß mehrere Ziele erreichen: Israel vor einem permanenten Katjuscha-Hagel bewahren, die Eröffnung einer dritten Front in der West Bank oder gar einer vierten an der syrischen Grenze verhindern und gleichzeitig die internationale Gemeinschaft von einer Stellungnahme gegen den jüdischen Staat abhalten. Bei dieser Bedrohungslage kämpft Olmert nicht nur um die Sicherheit seines Landes, sondern auch um sein politisches Überleben.
Vorerst macht der 60jährige keine schlechte Figur. Gegenüber dem Feind zeigt der Jurist Olmert mehr Entschlossenheit als die beiden Generäle, die ihm im Amt vorangegangen sind. Als die Hisbollah kurz nach dem israelischen Rückzug aus dem Libanon im Jahre 2000 drei israelische Soldaten entführte, ließ es der damalige Regierungs- und ehemalige Generalstabschef Ehud Barak bei Drohungen gegen die Schiitenmiliz bewenden. Auch der starke Mann Ariel Scharon hielt sich im vergangenen Jahr trotz starker Worte und Drohgebärden zurück, als die palästinensischen Terrororganisationen nach dem Gasa-Rückzug ihre Raketenoffensive gegen den westlichen Negev starteten. So blieb es ausgerechnet dem eher als Softie belächelten Olmert vorbehalten, die Ära der Sanftmut zu beenden.
Die Heftigkeit, mit der Israel auf die Entführung und Tötung seiner Soldaten an der Nordgrenze reagierte, hat nach Auffassung von Generalstabschef Dan Chalutz auch die Hisbollah überrascht. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, so Chalutz, sei bisher andere israelische Reaktionen gewohnt gewesen. Unter diesen Umständen hüten sich auch Olmerts politische Rivalen, den zu ungeahnter Größe gewachsenen »Militärstrategen« anzugreifen. Das gilt selbst für Oppositionsführer Benjamin Netanjahu. Auf die Frage eines Reporters, was er denn in der gegenwärtigen Lage anders machen würde als der Premier, beschränkte sich der Chef des Likud auf den Aufruf, der Regierung und der Armee den Rücken zu stärken.
Auch in der Öffentlichkeit kommt Olmerts ruhiges Auftreten und die gleichzeitig demonstrativ gezeigte Kampfbereitschaft gut an. Trotzdem ist der Premier da- durch nicht vor Kritik gefeit. Wie das Wahlvolk über ihn urteilen wird, hängt von einem siegreichen Ausgang der Kampf-handlungen ab. Doch selbst, wenn es Israel gelingt, die Raketenstellung der Hisbollah auszuschalten, muß Olmert seinen künftigen politischen Kurs sorgfältig abwägen. Die Raketenüberfälle aus Gasa und aus dem Libanon haben das Konzept des einseitigen Rückzugs wieder stärker in die Kritik gebracht. Die seit langem vorgetragene Warnung der Rückzugsgegner, daß derjenige, der vor Terroristen zurückweiche, vom Terrorismus verfolgt werde, bekommt wieder neue Nahrung.
Als ein »Volk von Narren«, das immer wieder der Illusion von Ruhe und Frieden erlegen sei, bezeichnete ein Kommentator der Tageszeitung Haaretz zynisch die israelische Bevölkerung, »die Kassams und die Katjuschas verdient«. Umfragen zufolge geht die Unterstützung für die Rückzugspläne auch im Wahlvolk zurück. Zwar hat der israelische Premier trotz der Kämpfe bekräftigt, er halte am Rückzug aus Gasa fest. Das letzte Wort Ehud Olmerts dürfte dies aber noch nicht gewesen sein.