Herr Demirel, Sie sind Mitglied des Expertengremiums gegen Antisemitismus, das vom Bundesinnenministerium einberufen wurde (vgl. S. 2). Wie kam es dazu?
Das Innenministerium ist auf die Arbeit unserer Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Kiga) aufmerksam geworden. In unserer pädagogischen Arbeit haben wir wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt. Jetzt gibt es die Chance, diese dem Gremium zur Verfügung zu stellen und gemeinsam Gegenstrategien zu entwickeln
Wie sieht die Arbeit der Kiga aus?
Begonnen haben wir 2003 mit Veranstaltungen zum Antisemitismusproblem in der Türkei. Dann ist Pädagogik in den Mittelpunkt gerückt. Wir entwickeln nun Konzepte gegen Antisemitismus. In den Jahren 2007 und 2008 ging es um die Arbeit in Haupt- und Realschulen, in diesem Jahr um die in Gymnasien. 2010 werden die Materialien dazu veröffentlicht.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Etwa zehn: Politik-, Islam-, Kommunikationswissenschaftler, Historiker. Es gibt arabische, türkische, muslimische, deutsche und jüdische Kollegen. Wenn wir in einer Schulklasse über jüdisches Leben oder islamistischen Antisemitismus reden, ist es wichtig, dass das jemand macht, der etwas vom Islam oder Judentum versteht.
Ist der Antisemitismus im islamischen Milieu besonders verbreitet?
Es gibt Wechselbeziehungen: Wenn radikale Auslegungen des Islam zur religiösen Identitätsfindung beitragen, dann kann das mit antisemitischem Denken einhergehen. Jugendliche mit arabischer Herkunft haben oft Bezü- ge zum Libanon oder den palästinensischen Gebieten. Bei diesen Schülern treffen wir häufig auf Ressentiments gegenüber Israel.
Also Antisemitismus?
Es sind bestimmte Fragmente des Antisemitismus, aber keine Ideologie, die Denken und Handeln prägt. Ein geschlossenes antisemitisches Weltbild zu unterstellen, wäre bei den meisten Schülern falsch.
Gibt es positive Entwicklungen?
Ja. Problembewusstsein und Sensibilität sind gestiegen. Nur in seltenen Fällen begegnet uns bei Schülern eine Abwehrhaltung, die von Juden und Israel gar nichts hören wollen.
Im Interview mit dieser Zeitung sagten Sie 2006, dass es für jüdische Schüler an Schulen mit hohem Migrantenanteil schwierig sei, sich als jüdisch zu bekennen. Ist das immer noch so?
Das ist weiterhin ein ernstes Problem. Ein Lehrer hat uns mal erzählt, dass an seiner Schule – mit einem Migrantenanteil von fast 100 Prozent – auf jeder Weltkarte Israel weggekritzelt war. Wir haben ein Jahr lang an dieser Schule gearbeitet. Die Ergebnisse dieser Workshops hängen immer noch komplett in den Klassenzimmern aus. Durch pädagogische Arbeit lässt sich sehr wohl Bewusstsein verändern und Toleranz fördern.