Herr Dalos, Sie wurden am 23. September 1943 in Budapest geboren. Sechs Monate später, im März 1944, besetzten die Deutschen Ungarn. Die »Endlösung« begann. Wie haben Sie überlebt?
Meine Budapester Verwandten und ich wurden zunächst in einem der sogenannten Judenhäuser im 13. Bezirk zusammengepfercht. Ab November 1944 waren wir dann im Ghetto. Dort hatte man ungefähr 100.000 Menschen eingesperrt. Es gab zwar keine Züge mehr, um die Deportationen durchzuführen, aber immer wieder wurden Juden von »Pfeilkreuzlern«, ungarischen Faschisten, erschossen, es herrschten Krankheit und Hunger. Das waren absolut ka-tastrophale Zustände. Wenn uns die Rote Armee im Januar 1945 nicht befreit hätte, hätte das wohl kein gutes Ende genommen.
Für andere aus Ihrer Familie kam die Befreiung zu spät.
In der Tat. Während die Budapester Verwandten größtenteils am Leben geblieben sind, wurden ungefähr zwei Drittel meiner Familienangehörigen, die in der Provinz lebten, deportiert und ermordet.
Auch Ihr Vater wurde verschleppt.
Ja, er musste Zwangsarbeit leisten. In dieser Zeit ist er lungenkrank geworden. Die Befreiung hat er zwar noch erlebt, ist aber dann im Juli 1945 in Budapest an Tuberkulose gestorben. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr habe ich dann in verschiedenen jüdischen Kinderheimen und Internaten gelebt, danach wohnte ich bei meiner Großmutter. Sie war Hilfsarbeiterin in einer Handwerkergenossenschaft. Wir gehörten zu der untersten Schicht der jüdischen Kleinbürger.
In diese Zeit Ihrer Jugend fällt der Aufstand von 1956, den Sie miterlebt haben. Gab es damals auch antisemitische Untertöne?
Nein, während des Aufstands war der Antisemitismus auf überraschend niedrigem Niveau. Es gab keine Pogrome. Zumindest in diesen zehn, zwölf Tagen herrschte wirklich eine Art nationaler Einheit. Wer die Sowjets und die Stalinisten als Hauptgegner betrachtete, der gehörte dazu. Das war schon eine große Sache.
Und danach?
In den Kádár-Jahren hat man versucht, dieses Thema nicht anzusprechen. Natürlich lebten die Vorurteile weiter, auch in den Kreisen der Intelligenz. Aber es gab keine Kapitalisten und keine sichtbare jüdische Schicht mehr, das Judentum als Religion wurde gleich den anderen Konfessionen ziemlich unterdrückt. Deswegen glaubte man, als die Wende kam, die antisemitische Tradition in Ungarn sei nicht mehr sehr lebendig. Das war natürlich ein Riesenirrtum!
Inzwischen zeigt sie sich immer offener.
Merkwürdig ist dabei, dass das Judentum heute als solches in Ungarn keine wichtige Rolle mehr spielt. Es handelt sich nur noch um höchstens 120.000 Menschen. Und von denen sind nur einige Tausend in der Politik und in den Medien aktiv. Übrigens bin ich nicht damit einverstanden, wenn man die ganze ungarische Gesellschaft als antisemitisch bezeichnet. Das alte Gift des Antisemitismus wirkt bis heute fort. Aber die ganze Gesellschaft? Da sehe ich doch auch die anderen Beispiele.
Imre Kertész hat Anfang November in der »Welt« über Ungarn geäußert: »Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen.«
Kertész ist kein Politiker, und er ist kein Diplomat. Er ist Schriftsteller. Er sagt, was er meint. Und das finde ich auch in Ordnung.
In seiner und Ihrer Heimat ist Kertész deswegen scharf angegriffen worden.
Kertész ist nicht nur zur Zielscheibe der radikalen Rechten, sondern der Rechten überhaupt geworden. Diese »christlich-nationale« Strömung kann ihn nicht ertragen. Das war schon zu jenen Zeiten so, als er überhaupt noch keine öffentlichen Äußerungen machte. Seit Anfang der 90er-Jahre hat man Kertész ins Visier genommen, und seit dem Nobelpreis 2002 ist das noch schlimmer geworden. In Ungarn gab es plötzlich Stimmen, die behaupteten, er sei kein Ungar – sondern Jude. Ich glaube, ganz egal, was Kertész sagt, er wird in diesen Kreisen immer als Feind betrachtet. Dabei ist er in Ungarn ein ziemlich populärer Schriftsteller. Sein »Roman eines Schicksalslosen« wurde im Jahr des Nobelpreises 80.000 Mal verkauft.
Wenn man an die antisemitischen Anfeindungen gegen Kertész und andere Autoren denkt oder die Bilder von Aufmärschen uniformierter Rechtsradikaler sieht, fragt man sich, ob Juden in Ungarn noch sicher sind.
So weit ist es noch nicht. Aber das Problem ist, dass es auch in den 30er- und frühen 40er-Jahren nicht so weit war. Wann eine latente Gefahr schließlich akut wird, kann man nicht vorhersagen. Aber die allmähliche Verschlechterung der sozialen Atmosphäre kann irgendwann in etwas umschlagen, was nicht gewünscht wird. Die Angriffe auf die ungarischen Roma waren jahrelang verbal, doch dann wurden in den letzten zwei Jahren neun Roma ermordet! Warum? Und welche Rolle spielten dabei die vorangegangenen verbalen Angriffe? Wenn du irgendwo Tonnen von Schießpulver gelagert hast, wird es vielleicht niemanden geben, der irgendwann ein Streichholz darauf wirft. Aber wenn es einer dann doch tut, dann ist die Katastrophe da. Das ist meine Angst um Ungarn.