Rhodos

Das ägäische Wunder

von Ludger Heid

»Möge Gott dich segnen und erhalten und sein Licht auf dich scheinen lassen – in Glück und gutem Wohlstand für immer, Schalom.« Dieser Wunsch von Miriam und Malcolm Newman aus London findet sich im Gebetbuch der Kahal-Shalom-Synagoge der Insel Rhodos. Die Newmans haben dort im August 1990 Urlaub gemacht, an einem Gottesdienst teilgenommen und sich von einer besonderen Stimmung einfangen lassen, die die im sefardischen Stil gebaute Synagoge ausstrahlt. So ging es vielen anderen Besuchern auch, die ihre Gefühle auf ähnliche Weise in den Gebetbüchern verewigt haben. »Wir haben auf dieser liebenswerten Insel ein Wunder gefunden«, schreiben Leila und Stan Brett, »wir werden es für immer bewahren«. In einem anderen Eintrag ist von Dankbarkeit die Rede, daß diese Synagoge unzerstört geblieben ist, und die Familie Dortnow hofft, daß die wunderschöne Schul immer bestehen möge.
Die aus dieser Hoffnung sprechende Sorge scheint durchaus berechtigt. Ein Schild vor dem Synagogeneingang weist darauf hin, daß die Kahal-Shalom auf der Liste der 100 meistgefährdeten Orte der World Monument Watch steht. Daneben informiert ein weiteres Schild, daß das Gebetshaus seit dem Jahre 2004 durch die Europäische Union mit 75 Prozent sowie aus Mitteln des griechischen Kulturministeriums mit 25 Prozent renoviert wird.
Kahal-Shalom ist die älteste Synagoge in Griechenland – die letzte von einstmals sechs Synagogen auf Rhodos, die es im jüdischen Viertel Juderia gab. Sie liegt ein wenig abseits in der Simmiou 2, und mit ihrem Flachdach scheint sie sich ein wenig vor den zahlreichen Minaretten und Glockentürmen der orthodoxen Kirchen zu ducken.
Schon in antiker Zeit gab es Juden auf Rhodos, doch die eigentliche Geschichte begann mit den sefardischen Juden, die vor der spanischen Inquisition in den östlichen Mittelmeerraum flüchteten. Rhodos wurde wegen seiner zahlreichen Jeschiwot, der Gelehrsamkeit seiner Rabbiner und der Frömmigkeit seiner Juden das »Tchika Jeruschalaim«, das Kleine Jerusalem genannt. Die spanischen Juden brachten ihre Kultur und Sprache mit, die sie in der neuen Heimat bewahrten. Bis in die Gegenwart benutzen die sieben noch auf der Insel lebenden Familien – 35 Menschen, der jüngste ist 18 Jahre alt – das traditionelle Ladino, oder Judeo-Spanisch als Alltagssprache.
Die Einrichtung der Synagoge folgt dem traditionellen sefardischen Stil. Der Fußboden ist dekoriert mit weißen und schwarzen Kieselsteinen, die senkrecht verlegt sind, wie man es als Bodenbelag auch an anderen Stellen der Altstadt antrifft. Eine Agraffe, im Fußboden verlegt, sticht ins Auge und gibt das Jahr des Synagogenbaus preis: Kislev 5338 – das entspricht dem Dezember 1577. Die Frauenempore, Esrat Naschim, ist erst in den 30er Jahren errichtet worden. Vor dieser Zeit saßen die Frauen in einem Nebenraum an der Südseite des Gebetsraums. Der jüdische Friedhof befindet sich einige Kilometer außerhalb der Altstadt an der Straße nach Kalitheas.
Markos Amgar ist ein freundlicher Mann. Er empfängt jeden neugierigen Besucher in der Synagoge persönlich, fragt nach der Herkunft der Gäste, spricht Englisch, Hebräisch, Französisch und Griechisch. Der 27jährige ist normalerweise ein geduldiger Mensch. Er leitet das Restaurationsprojekt der Kahal-Shalom und hat es eilig damit. Am Freitag soll der erste Gottesdienst stattfinden. Er gibt den Re-stauratoren und Arbeitern Anweisungen und packt auch selbst an. Heute wirkt er aber ein wenig hektisch. Mehr Besucher als gewöhnlich haben sich eingestellt und wollen sich in den musealen Nebenräumen der Synagoge die Ausstellung erklären lassen und die Mikwe besichtigen.
An diesem Tag ist Samuel Modiano auch im Hause. Er führt auch durch die Ausstellung in den Nebenräumen, erklärt den Besuchern Fotos und Exponate. Modiano, 1930 auf Rhodos geboren, sieht man seine 76 Jahre nicht an, schon gar nicht seine leidvolle Lebensgeschichte, die vor 62 Jahren eine tragische Wendung nahm. Er hatte gerade seinen 14. Geburtstag gefeiert, als die SS ihn mit seiner Familie und mehr als 1.600 Juden von Rhodos nach Auschwitz verschleppte. Fünfzehn seiner Familienmitglieder verlor er in den Todeslagern. Auf Intervention des italienischen Staates erhielt er eine Wiedergutmachung von 5.000 Dollar, ausgezahlt in Raten.
Die Juden auf Rhodos haben viele Herrscher kommen und gehen sehen: Ihre Geschichte begann im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit der Vertreibung aus Palästina unter römischer Gewalt, es folgte die byzantinische Zeit. Einschneidend war die Epoche der Kreuzritter, die Macht der Johanniter, die zwischen 1309 und 1522 dauerte und deren Spuren die Stadt bis heute prägen. Die türkische Zeit dauerte bis 1912 und wurde im selben Jahr vom italienischen Intermezzo abgelöst, eine Zeit ohne Judenfeindschaft bis 1936 – als das Pendel in Richtung Faschismus umschlug.
Die ganze Tragik der Juden von Rhodos lag auch darin, daß die Deutschen im September 1944 Griechenland verließen – mit Ausnahme von Rhodos, Kreta und einigen anderen Inseln, wo sie sich erst im Mai 1945 ergaben. Nur 151 Juden überlebten, darunter 30 Männer. Der türkische Konsul Mehmet Selahadin Ülkmen rettete 42 jüdische Familien, denen er gegen geltendes türkisches Recht Pässe ausstellte, selbst Menschen, die keinerlei Verbindung zur Türkei hatten. Mehr als 200 Juden bewahrte er vor dem Weg in die Gaskammer. Als Vergeltung sprengten die Deutschen später sein Haus in Rhodos, wobei seine Frau ums Leben kam. Israel ehrte den 2003 Verstorbenen ehemaligen Diplomaten mit einer Briefmarke, Yad Vashem im Jahre 1990 mit dem Titel »Gerechter unter den Völkern«. Der Mufti von Rhodos verwahrte die Torarollen aus der Synagoge bis zum Ende des Krieges.
Im Sommer 1944 hatte die jüdische Gemeinde Rhodos aufgehört zu existieren. Und damit zugleich ein multi-religiöses- und kulturelles Leben zwischen Christen, Muslimen und Juden, das die Insel jahrhundertelang ganz besonders geprägt hatte. Die Juden hatten mit ihren kaufmännischen und traditionell-handwerklichen Berufen ihr sefardisches Erbe in die vorgefundene Kultur eingebracht. Spanische Poesie wurde mit ottomanischer Musik kombiniert. Populäre Lieder – in Ladino vorgetragen – waren eine Mischung aus religiösen, moralischen und satirischen Lamentationen.
In das Gespräch mit Modiano mischt sich eine ältere Frau ein. Sie ist ebenfalls eine Schoa-Überlebende aus Rhodos. Mit dem Stolz eines Menschen, der sich nicht unterkriegen läßt, zeigt sie ihren Unterarm mit der tätowierten Häftlingsnummer – und ein Foto aus den 30er Jahren: sie als junges Mädchen. Rachel Hougnou ist jetzt 81, lebt in der simbabwischen Hauptstadt Harare und besucht zum ersten Mal nach ihrer Befreiung vor 61 Jahren ihren Geburtsort. Sie begleitet ihren Sohn Aaron Hanan, der in Johannesburg lebt und der angesichts der Vertreibungspolitik von Präsident Mugabe bedauert, daß seine Mutter Simbabwe nicht längst verlassen hat. »Ich bin vom Regen in die Traufe gekommen«, schüttelt Rachel den Kopf, »die Nazis habe ich überlebt, jetzt erlebe ich einen neuen Rassismus«.
Aber auch Rhodos sei von Xenophobien nicht frei. Man sagt, der Antisemitismus in Griechenland sei marginal, doch man möge Israel hier nicht, die Sympathien gelten eher den Palästinensern. Gefragt, wie das griechisch-jüdische Verhältnis heute ist, antwortet Carmen Cohen, zuständig für die Gemeindeverwaltung: »Die Griechen sind gegen die Juden, aber sie wissen nicht warum«. Auf die Frage nach der Zukunft der jüdischen Gemeinde auf Rhodos zuckt Carmen Cohen nur hilflos die Schultern und gibt die Frage unbeantwortet zurück.
Im Jahre 2002 hat die jüdische Gemeinde aus Spendenmitteln einen schwarzen Granitmonolith in Form eines Davidsterns für die Schoa-Opfer errichten lassen. »In ewiger Erinnerung an die 1604 jüdischen Märtyrer von Rhodos und Kos, die in Nazi-Todeslagern ermordet wurden« ist in sechs Sprachen eingemeißelt. Das Tuch, das das Mahnmal bis zur offiziellen Einweihung bedeck- te, war noch nicht gelüftet, als Gegner bereits die Gravuren zerstörten und damit ihre Ablehnung dokumentierten. Der Gedenkstein steht an zentraler Stelle, in der Mitte des ehemaligen jüdischen Viertels, dem heutigen touristischen Mittelpunkt der Stadt mit einem markanten Brunnen. Der Name des Platzes ist »Evreon Martyrion« – Platz der jüdischen Märtyrer. Die Händler der umliegenden Plaka hatten vehement gegen die Errichtung des Mahnmals protestiert, weil sie um ihre Geschäfte fürchteten und annahmen, der Gedenkstein sei mit griechischem Geld errichtet worden.
Es ist kurz vor dem Gottesdienst. Der Restaurator bessert mit Hilfe einer Schablone die letzten Details der floralen Vignetten auf der Synagogenwand nach. Die schützende Folie wird von der Bima entfernt, die Leuchter sind angezündet. Das Gotteshaus erstrahlt in neuem Glanz und widerlegt eindrucksvoll die Bemerkung im Baedeker-Reiseführer, die Synagoge sei nicht von kunsthistorischem Wert, sondern ein Mahnmal der jüdischen Geschichte.
Gottesdienste sind in der Synagoge nur dann möglich, wenn genügend Urlauber oder frühere Einwohner die Insel besuchen und sich zum Freitagabend-Gottesdienst, den Hohen Feiertagen oder besonderen Anlässen zusammenfinden. An diesem Freitagabend findet in der Synagoge nach einer über zweijährigen Renovierung erstmals wieder Kabbalat Schabbat statt. Jüdische Frauen sind an diesem schwülen Juliabend zahlreich erschienen. Doch bis zum Schabbateingang haben sich lediglich acht Männer eingefunden. Kein Minjan – kein Gottesdienst. Doch bald macht die Botschaft die Runde, die fehlenden zwei Männer sollen bald eintreffen. Der Raum ist mit einer besonderen Stimmung erfüllt: Die zwei Vorbeter singen etwas dissonant die traditionellen Gebete vor. Ein angenehmer kühlender Luftzug streicht sanft durch das Hauptportal und durch die Synagoge.
Nach dem schlichten Kiddusch ähnelt die Atmosphäre der Zeit der babylonischen Sprachverwirrung. Ehemalige Juden aus Rhodos, die verstreut über die Welt leben, lachen, sprechen, umarmen einander. Italienisch, Griechisch, Englisch, Deutsch – und natürlich Ladino. Es geht laut durcheinander, man verständigt sich. »Wir sind die Enkelgeneration«, sagt ein Mann, der in Belgien wohnt und versichert, immer wieder nach Rhodos zurückzukommen und die Gemeinde zu unterstützen.
Im vergangenen Jahr gab es drei Hochzeiten und eine Barmizwa, in diesem Jahr eine weitere. Es sind die emotionalen Bindungen, die von den Juden von Rhodos auf die nachfolgende Generation übergegangen und stark ausgeprägt sind. Das jüdische Leben geht auf der Insel weiter, auch ohne ansässige Juden.

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