von Richard Herzinger
Seine Fragen an den Referenten seien befriedigend beantwortet, beschied Jürgen Habermas. Das Wort des Doyen des aufgeklärten deutschen Linksliberalismus wirkte wie eine Absolution für Tariq Ramadan, den umstrittenen Islamgelehrten und Vordenker eines »Euro-Islam«, dem Habermas vorige Woche in Schloss Elmau zum ersten Mal leibhaftig begegnete. Ramadan durfte den versammelten europäischen, amerikanischen und israelischen Judaisten, Islam- und Kulturwissenschaftlern nun gleichsam offiziell als Prototyp des europäisch-muslimischen Intellektuellen gelten.
Allzu tief hatte Habermas mit seinen Fragen freilich nicht gebohrt. In seinem Vortrag im Rahmen der Tagung »Muslims and Jews in Christian Europe« hatte sich Ramadan über das »Misstrauen« beklagt, das den Integrationsbekenntnissen europäischer Muslime noch immer begegne. Mit Blick auf die lange und schwierige europäische Säkularisierungsgeschichte, hatte Habermas gekontert, sei doch Skepsis gegenüber Ramadans Behauptung angebracht, der muslimische Anspruch auf religiöse Entfaltung widerspreche der pluralistischen Verfasstheit westlicher Gesellschaften nicht. Als Beleg für mögliche heilige Allianzen gegen die säkularen Errungenschaf- ten führte Habermas jüngste Äußerungen des Erzbischofs von Canterbury an, der den britischen Muslimen zugestehen will, in bestimmten Fragen nach der Scharia statt von britischen Gerichten abgeurteilt zu werden. Was Ramadan davon halte?
Man verstehe die Forderung nach Scharia-Gerichten falsch, so dessen Antwort, wenn darin der Versuch muslimischer Gemeinden gesehen werde, sich von der bestehenden Rechtsordnung zu entfernen. Die Scharia zu praktizieren, heiße in diesem Kontext nichts anderes, als das allgemein gültige Recht auf bestimmte innermuslimische Angelegenheiten anzuwen- den. Er, Ramadan, habe dennoch gegen solche Sonderinstitutionen Stellung bezogen, weil sie falsche Signale setzten.
Die Replik zeigte beispielhaft Ramadans zweigleisige Argumentationsstrategie. Gegenüber der Mehrheitsgesellschaft tritt er als Vermittler muslimischer Anliegen auf, der sie in die Sprache des liberalen Universalismus »übersetzt.« Den muslimischen Gemeinschaften wiederum will er die Prinzipien des säkularen Rechtsstaats ihrem eigenen Verständnis gemäß näherbringen. So argumentiert er durchgehend in einer Art struktureller Relativität. Einerseits betont er, nur eine kleine Minderheit unter Europas Muslimen habe Integrationsprobleme in die säkulare Gesellschaft, 80 Prozent von ihnen praktizierten ihren Glauben nicht einmal. Dann aber hebt er hervor, wie oft er wegen seiner klaren Bekenntnisse zum europäischen Säkularismus in den eigenen Gemeinden kritisiert und bis zu dem Vorwurf angefeindet werde, er sei kein echter Muslim mehr. Wie das, wenn die Säkularität unter der großen Mehrheit der Muslime doch unumstritten sein soll?
Ähnlich schillernd äußert sich Ramadan zum neuen Antisemitismus in Europa. Emphatisch verurteilt er den Antisemitismus im Allgemeinen und erklärt sich bereit, gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden dagegen anzukämpfen. Zugleich warnt er diese jedoch davor, von einem »neuen«, spezifisch muslimischen Antisemitismus zu sprechen, würde damit doch eine Minderheit eine andere in Misskredit bringen.
Was manchem Kritiker wie Doppelbödigkeit vorkommt, rechtfertigt Ramadan mit der Logik seiner eigenen öffentlichen Rolle. Er müsse gegenüber der eigenen Gemeinschaft anders reden als gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, um erstere argumentativ »mitzunehmen« und letztere von einem simplifizierten Klischeebild »der Muslime« abzubringen. Dass er die Gefahr des militanten Islamismus herunterspielt, sie in Elmau gar gänzlich unerwähnt ließ, fördert das Vertrauen in seine Aufrichtigkeit allerdings nicht.
Den Islamismus nicht mit »dem Islam« zu verwechseln, ohne aber den Zusammenhang zwischen Religion und Ideologie zu leugnen, ist die intellektuelle Herausforderung, an der sich auch die Tagung in Elmau implizit oder explizit abarbeitete. Mark R. Cohen (Princeton) machte deutlich, dass die Ansicht, der islamistische Antisemitismus sei von Anfang an in der islamischen Tradition oder gar schon im Koran angelegt, ebenso ein Mythos sei wie die verklärende Vorstellung, Juden hätten unter muslimischer Herrschaft jemals in einem Zustand harmonischer Gleichheit gelebt. Doron Rabinovici (Wien) und Ian Buruma (New York) distanzierten sich vorsichtig von intellektuellen Verteidigern westlicher Werte, die sich aus Angst vor der Bedrohung durch den Islamismus in zu große Nähe von xenophoben Gralshütern des »christlichen Abendlandes« begäben. Seltsam nur, dass Buruma selbst keine klare Unterscheidung zwischen jenen traf, die vor einer »islamischen« und jenen, die vor einer »islamistischen« Bedrohung warnen – macht diese terminologische Differenz doch einen Unterschied ums Ganze aus. Die erste Gruppe sieht sich im potenziellen Krieg mit einer als homogene Einheit imaginierten, als feindlich betrachteten Kultur, die zweite mit einer mörderischen religiös-politischen Ideologie, deren Opfer in der überwältigenden Mehrheit Muslime sind.
Immerhin konzedierte Buruma, dass die islamistische Bedrohung der freiheitlichen Zivilisation tatsächlich existiere. Insgesamt aber war man in Elmau sehr darauf bedacht, bloß nicht in Verdacht zu geraten, »Hysterie« zu schüren und das Bild »des Anderen« zu »dämonisieren.« Deutlicher Widerspruch regte sich bei einigen Teilnehmern freilich gegen die Thesen der deutsch-iranischen Publizistin Katajun Amirpur, die Ahmadinedschads Vernichtungsdrohungen gegen Israel kulturtheoretisch »kontextualisierte« – was einer Beschönigung der Motive des Teheraner Regimes bedenklich nahekam. So glaube sie nicht an eine iranische Kriegsabsicht gegen Israel, habe doch der oberste geistliche Führer Irans, Ayatollah Khamenei, bereits erklärt, er plane keinen Krieg. Und das staatliche Gebilde Israel zerstören zu wollen, sei schlimm, aber doch immer noch etwas anderes, als eine generelle Judenvernichtung zu planen.
Diese Art von »Entdämonisierung« wäre vermutlich selbst Tariq Ramadan peinlich gewesen. Der aber musste sie nicht mehr hören. Direkt nach seinem zweistündigen Auftritt in Elmau war er zu seinem nächsten Termin geeilt – nach Moskau.