Amelie Fried, man kennt Sie als TV-Moderatorin, als erfolgreiche Roman- und Kinderbuchautorin. Jetzt haben Sie mit »Schuhhaus Pallas« ein Werk vorgelegt und als Hörbuch auch eingelesen, das nicht Fiktion ist, sondern die Geschichte Ihrer eigenen Familie im Dritten Reich. Wie kam es dazu?
fried: Es begann alles mit einem Anruf aus New York. Mein Mann war dort, weil er den Marathon laufen wollte, und hat aus persönlichem Interesse das Leo-Baeck-Institut besucht. Er rief mich an und fragte, ob mir der Name Max Fried etwas sage. Ich musste verneinen. Er sagte mir, er habe im Gedenkbuch der Münchner Juden einen Max Fried gefunden, der die gleichen Eltern hätte wie mein Großvater, also ein Großonkel von mir sein müsste. Und dann fuhr er fort: »Dieser Max Fried und seine Frau wurden 1943 aus München deportiert und sind in Auschwitz umgekommen.« Da hatte ich das Gefühl, es tut sich plötzlich ein Abgrund vor mir auf. Ich ahnte, dass ich auf ein Familiengeheimnis gestoßen war, von dem ich überhaupt keine Ahnung gehabt hatte. Ich habe kurz überlegt, will ich mehr darüber wissen oder lasse ich das lieber ruhen. Dann habe ich festgestellt: Das kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Danach habe ich dann, gemeinsam mit meinem Mann, drei Jahre lang in Archiven recherchiert und mit vielen Menschen gesprochen, habe unglaubliche Funde gemacht und bin auf Geschichten gestoßen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Und am Ende ist ein, sicherlich unvollständiges, aber doch sehr viel umfassenderes Bild des Schicksals meiner Familie in diesen zwölf Jahren entstanden.
In Ihrer Familie war über die Nazizeit nie groß gesprochen worden?
fried: Genau. Ich wusste, dass mein Großvater Jude gewesen war, dass mein Vater in der Nazi-Terminologie »jüdischer Mischling ersten Grades«, also Halbjude, war. Wir haben in unserer Familie dieses Thema eigentlich nie weiter berührt, weil mein Vater, immer wenn die Sprache darauf kam, sehr abweisend reagiert hat, und wir Kinder natürlich sehr schnell begriffen haben, da rühren wir besser nicht dran.
Es gibt ein Wort des Philosophen Hermann Lübbe für dieses Verhalten. Er hat es das »kommunikative Beschweigen« der Vergangenheit genannt. Die sollte ruhen, und doch war sie gerade, indem man sie so wortreich vermied, untergründig stets gegenwärtig. Darin ähnelte Ihre Familie vielen anderen deutschen Familien, wenngleich die Gründe natürlich ganz andere waren als bei den sogenannten Täterfamilien. Sie schreiben an einer Stelle von einer Scham, Opfer gewesen zu sein.
fried: Also dieses Zitat von Hermann Lübbe trifft genau mein Gefühl und meine Erfahrung. Nämlich das genau das, was verschwiegen wird, wie Mehltau, wie ein Schleier über einer Familie liegt. Denn man spürt unterbewusst, dass es ein Geheimnis gibt, dass da ein Tabu ist, dass man an gewisse Dinge nicht rühren darf. Dieses Schweigen ist in der Tat etwas, das Familien von Tätern und Opfern auf merkwürdige Weise verbindet. Man soll ja nicht glauben, dass Menschen, nur weil sie Opfer waren, immer gut und richtig und moralisch gehandelt haben. Im Laufe meiner Recherche hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass mein Vater – und auch meine Großmutter und meine Tante – in einigen Situationen unter dem Druck der Verhältnisse Dinge getan haben, für die sie sich später sicherlich geschämt haben. Beispielsweise hat mein Vater den Vorschlag gemacht, die Eltern sollen sich doch pro forma scheiden lassen. Mein Großvater war jüdisch, meine Großmutter war »arisch«. Dieser Vorschlag sollte dazu dienen, das Schuhgeschäft, von dem die ganze Familie in Ulm lebte, zu retten. Gleichzeitig lieferte man damit meinen Großvater aber mehr oder weniger den Nazis ans Messer, denn ohne den Schutz der »privilegierten Mischehe« war er natürlich in höchster Gefahr. Das sind Dinge, an die möchte man, wenn alles vorbei ist, nicht erinnert werden.
Ihre Großeltern haben sich 1939 tatsächlich scheiden lassen. Wie bewerten sie den Vorschlag Ihres Vaters heute?
fried: Man muss zu seiner Ehrenrettung sagen, dass zu diesem Zeitpunkt die systematische Judenvernichtung, wie sie später vollzogen wurde, noch nicht abzusehen war. Aber natürlich wusste man, dass es KZs gab, dass dort furchtbare Zustände herrschten, dass Menschen, die dort reinkamen, möglicherweise nicht lebend wieder herauskamen. Ich denke schon, dass er verdrängt haben muss, in welche Situation er seinen Vater mit diesem Vorschlag bringt. Ich denke, das hat die ganze Familie damals verdrängt. Möglicherweise sogar mein Großvater selbst, der gedacht hat: »Na ja, gut, dann bring‹ ich mich aus der Schusslinie. Dann lässt der Druck auf die Familie nach. Irgendwie wird das schon alles gut gehen.«
Ihr Großvater hat Glück gehabt und überlebt. Aber das Verhältnis zu seinem Sohn Kurt, Ihrem Vater, war nach 1945 sehr belastet.
fried: Ja, mein Vater und mein Großvater hatten später ein ganz gestörtes und gespanntes Verhältnis. Das habe ich als Kind – wenn auch nur diffus – wahrgenommen. Ich war noch nicht mal sechs, als mein Großvater starb, aber in diesen ersten Jahren, an die ich noch eine Erinnerung habe, habe ich gespürt, dass da eine ungute Atmosphäre geherrscht hat. Ich glaube schon, dass mein Vater sich Vorwürfe gemacht hat. Auf der anderen Seite glaube ich, dass er eben auch ein guter Verdränger war, und dass er sich nie wirklich offen mit dem auseinandergesetzt hat, was in dieser Familie passiert ist.
Haben Sie das Gefühl, ihm posthum ein Geheimnis entrissen zu haben, das er vielleicht lieber mit ins Grab genommen und dort für ewig gehütet hätte?
fried: Er hat es ja mit ins Grab genommen. Auf der anderen Seite bin ich mir nicht sicher, ob er nicht vielleicht auch ganz froh und erleichtert wäre, wenn er wüsste, dass ich diese Geschichte nun entschlüsselt habe, dass ich so vieles ans Tageslicht bringen konnte, was ihn ja auch besser verständlich für uns macht. Ich fühle mich jetzt dieser Familie viel näher und verbundener. Das ist eine wunderbare Erfahrung, gerade, wenn man vorher diese merkwürdige Fremdheit erlebt hat. Und deswegen bin ich sehr froh, dass ich es gemacht habe.
Das Gespräch führte Knut Cordsen.