Gay-Parade

Coming In

von Michael Borgstede

Die gute Nachricht zuerst: Selten sieht man in Jerusalem Juden, Araber und Christen so einträchtig miteinander kooperieren wie in den letzten Wochen. Wenn die religiösen Führer der drei Weltreligionen sich immer so gut verstünden wie beim gemeinsamen Haß auf Homosexuelle, müßte man sich um die Zukunft der Heiligen Stadt keine Sorgen machen. Schon Wochen vor der geplanten Gay-Pride-Parade in Jerusalem forderten Plakate zu einem »gemeinsamen Kampf von Juden und Arabern gegen die Sodomiten der Sünderparade« auf. Der Jingle-Sänger der sefardisch-orthodoxen Schas-Partei brachte gar ein Duett mit dem arabischen Popstar Nassim Shamia: »Jerusalem wird brennen« drohen die beiden musikalisch und müssen sich deshalb möglicherweise wegen Anstiftung zur Gewalt vor Gericht verantworten. Bei so viel jüdisch-arabischer Eintracht wollte sich auch der Vatikan nicht lumpen lassen und erklärte ebenfalls seine Opposition. Die Parade verletze die religiösen Gefühle der Gläubigen aller Religionen und müsse deshalb abgesagt werden, forderte der Gesandte des Papstes.
Die Proteste gegen die Parade hatten schon Wochen vor dem geplanten Termin begonnen. Zahllose Poster zeigten ein verängstigtes Kind. »Mama, ich habe Angst« stand in roten Lettern darunter. Dann folgte die Erklärung. Das Kind habe Angst, weil Homosexuelle Menschen seien, die »kleinen Kindern grauenvolle Dinge zufügen, sodomitische Dinge, in den Parks von Jerusalem«. Bald meldeten die Zeitungen, einige orthodoxe Gegner würden sich nicht mit verbalen Protesten zufriedengeben und hätten benutzte Babywindeln, vergammelte Eier und verfaultes Obst, aber auch gefährliche Waffen wie Rasierklingen gesammelt. Im orthodoxen Viertel Mea Schearim wurden gar Kurzanleitungen zum Bau von Molotow-Coktails verteilt. Die Angst vor einer Eskalation der Gewalt war groß. Schon im vergangenen Jahr hatte ein orthodoxer Demonstrant einen der marschierenden Homosexuellen mit einem Messer angegriffen und verletzt. Zu einem solchen Zwischenfall kam es bei der Gay-Pride in Jerusalem am vergangenen Freitag nicht. Den- noch war die Stimmung der nur rund 3.000 Teilnehmer im Stadion der Hebräischen Universität getrübt.
»Nach dem ganzen Hickhack haben schließlich doch wieder die Orthodoxen gewonnen«, beschwerte sich Ayala, die extra aus Tel Aviv angereist war. Denn nachdem der Oberste Gerichtshof und Generalstaatsanwalt Menachem Mazuz den Schwulen und Lesben ihr verbürgtes Recht auf freie Meinungsäußerung gewähren wollten und der geplanten Parade durch Jerusalem ihren Segen gegeben hatten, kam den Organisatoren nach dem Libanon-Krieg zum zweiten Mal die politische Situation in die Quere. Bei einem Granatenangriff der Armee im Gasastreifen kamen durch einen technischen Fehler 19 Palästinenser ums Leben – Hamas wie Fatah schworen Rache, und die israelische Polizei sah sich nicht in der Lage, sowohl die Gay-Pride als auch den Rest des Landes angemessen zu sichern. So wurde aus der Parade ein Happening im Stadion. 3.000 Polizisten sorgten für die Sicherheit der rund 3.000 Teilnehmer. Die Orthodoxen erklärten sich bereit, die geschlossene Veranstaltung nicht zu stören. Als Gegenleistung verlangten sie eine Amnestie für alle Demonstranten, die bei den teilweise gewalttätigen Protesten von der Polizei in Gewahrsam genommen worden waren.
So hatte sich die schwul-lesbische Community ihre Parade nicht vorgestellt. Im Stadion wollte trotz aller gewollten Fröhlichkeit, Rap-Musik und vieler bunter Fahnen so richtige Feierlaune nicht aufkommen. Der Meretz-Politiker Ran Cohen faßte in Worte, was viele der Anwesenden fühlten. Er halte den erreichten Kompromiß für unangemessen. »Es stimmt zwar, daß die schwule Gemeinschaft ihr Ziel erreicht hat, die Parade abzuhalten, aber auf eine gewisse Weise hat die israelische Demokratie versagt.« Nichtsdestotrotz dankte der bekannte Schriftsteller Sami Michael in seiner Rede der Polizei für ihren Einsatz und erntete dafür enthusiastischen Applaus. Den einzigen Störfall des Morgens beendeten die Sicherheitskräfte dann auch schnell und unkompliziert. Als ein Gegner der Parade auf das Podium zustrebt und schwulenfeindliche Sprüche ins Mikrofon schreit, nehmen ihn einige Polizisten sofort in Gewahrsam.
»Sie haben uns in einen Käfig gesperrt«, beschwerte sich Oren Meir und fragte: »Die heutige Parade ist das Gegenteil eines Coming Out. Was werden junge Schwule jetzt denken, wenn sie sehen, wie man uns von der Öffentlichkeit wegschließt und wir eben nicht Teil der Jerusalemer Bevölkerung sind? Sie werden sich natürlich zweimal überlegen, ob sie auch so leben wollen«.
Einiges spricht für diese Sichtweise. So wird Yehuda Levin, ein für die Proteste extra aus New York angereister orthodoxer Rabbiner, am Abend im Fernsehen fast dasselbe sagen: »Heute hat die Religion einen großen Sieg errungen«, verkündet er stolz. »Die Sodomiten mußten sich in ihr bildliches ›Closet‹ zurückziehen, sie dürfen nicht mehr provozieren.«
Das sehen die Organisatoren vom »Open House« naturgemäß anders. »Wir werden Jerusalem nicht den Fanatikern überlassen«, schrie eine wütende Elena Canetti ins übersteuerte Mikrofon. »Niemals werde ich mein Recht aufgeben, als gleichberechtigte lesbische Bürgerin in meiner Stadt zu leben. In Jerusalem!« Und darum werde es im nächsten Jahr wieder eine Gay-Pride-Parade geben. Dann allerdings hoffentlich nicht im Stadion, sondern auf den Straßen der Hauptstadt.
Einen Vorgeschmack darauf, was das bedeuten könnte bekamen einige Dutzend schwule Aktivisten, die sich gegen die Kompromißvereinbarung gestellt hatten und versuchten, entlang der ursprünglich geplanten Strecke zu marschieren. Denn selbstverständlich ließen die bekannten Rechtsaußen der israelischen Politik ließen nicht lange auf sich warten: Baruch Marzel, der mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilte Itamar Ben-Gvir und der gerade einmal nicht unter Hausarrest stehende Noam Federman drohten, das Gesetz selbst in ihre Hand zu nehmen: »Eine Parade findet nur über unsere Leichen statt« schrie Federman. »Verschwindet, ihr perversen Kranken!« Dann warnte er seine Mitdemonstranten den Schwulen ja nicht zu nahe zu kommen: »Sonst kriegt ihr AIDS«. Da kam es doch noch zu Festnahmen: die Polizei nahm rund zwanzig Homosexuelle in Gewahrsam.

Kultur

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