von Matthias B. Krause
Bestenfalls hatten sie Mitleid mit ihm. Schlimmstenfalls lehnten sie ihn schlichtweg ab. Man kann nicht sagen, dass David Blatt als Coach der russischen Basketball-Nationalmannschaft ein leichter Start vergönnt war. Als er Anfang 2006 den Job antrat, kam er mit einem halben Dutzend europäischer Vereinstitel in der Hand zu einem Team, das seit zehn Jahren kaum mehr gewonnen hatte. Auch bei der Europameisterschaft 1997 reichte es nur für Bronze. Eigentlich nicht akzeptabel für eine Nation, die zu sozialistischen Zeiten 14 europäische Titel sammelte. Blatt musste die Mannschaft durch die Qualifikation führen, um an der EM im September in Spanien überhaupt teilzunehmen. Und auch dort hatte sich das Mitleid noch nicht ganz gelegt. »Niemand möchte im Augenblick in den Schuhen von David Blatt stecken«, unkte der offizielle Medienguide, der ausführlich auf das Unbehagen in der russischen Basketball-Szene einging, die viel lieber einen einheimischen Coach an der Spitze ihres Nationalteams gesehen hätte.
13 Tage später hätten viele gern in Blatts Schuhen gesteckt. Um seinen Hals baumelte eine Medaille aus purem Gold. 60:59 besiegten die Russen die favorisierten Spanier in Madrid, und Blatt sah sich im Mittel- punkt eines unwahrscheinlichen Traums: »Ein in Amerika geborener, in Israel ausgebildeter Basketballtrainer ist nun mit Russland Europameister – ist das nicht großartig?« In den USA, wo sogleich spekuliert wurde, welches Team der National Basketball Association (NBA) er denn nun übernehmen könne, taufte man den Globetrotter prompt »Atlas«. Was nicht heißt, dass es jetzt eine große Kampagne gäbe, um den verlorenen Sohn heimzuholen. Aber die Experten haben doch aufgehorcht, schließlich vollbrachte Blatt nicht zum ersten Mal Dinge, die nur wenigen vor ihm gelungen waren.
Man nehme etwa den MVP (Most Valuable Player = wertvollster Spieler) des Turniers in Spanien, Andrei Kirilenko, der den Titel »die wichtigste Errungenschaft meiner Karriere« nannte. Der versöhnliche Abschluss eines völlig verkorksten Jahres, wurde Kirilenko doch bei den »Utah Jazz« für das vorzeitige Ausscheiden bei den Playoffs verantwortlich gemacht. Dort war er als Schatten seiner selbst über den Platz geschlichen, ohne jedes Selbstvertrauen, ohne Fortune. Unter Blatt blühte er in wenigen Wochen wieder auf und führte die Russen zum Titel. Das zeigt, wie gut sich Blatt auf die Entwicklung von Spielern versteht, auch wenn sie schon gestandene Stars sind.
Ein anderes Beispiel ist der Italiener Andrea Bargnani, den Toronto im letzten Jahr als ersten Europäer in der Geschichte der NBA als Nummer Eins auswählte. Bargnani war in Treviso unter Blatts Fittichen groß geworden, die beiden gewannen im vergangenen Jahr einen nationalen Meistertitel. Maurizio Gherardini, damals in Treviso Blatts Manager und heute Vize-Präsident in Toronto, sagt über den Trainer: »Er hat eine ein zigartige Vorstellung davon, wie Basketball gespielt werden sollte. Die Umstände, unter denen er in Russland und Italien Titel gewann, machen ihn zweifellos zu einem europäischen Top-Trainer.« Und gerade 48 Jahre alt, sollte seine beste Zeit noch vor ihm liegen. Gherardini prognostiziert: »Er wird sich aussuchen können, wen er coacht.«
Zunächst geht Blatt in die Türkei, zu Efes Pilsen nach Istanbul. Wieder eine neue Herausforderung in einem neuen Land mit einem Klub, der schon bessere Tage gesehen hat. So hielt es Blatt bislang fast immer. Seit er 1981 in Princeton seinen Abschluss machte und in die Welt hinauszog, reizen ihn Sanierungsobjekte. Der amerikanische Jude erwarb die israelische Staatsbürgerschaft und spielte zwölf Jahre lang in der israelischen Liga, unter anderem für Maccabi Tel Aviv. Als seine Achillessehne riss, sattelte er auf das Trainer-Amt um und arbeitete sich von kleinen Klubs in Israel an die europäische Spitze vor. Dabei profitierte er von dem, was er als Aufbauspieler in Princeton lernte: »Damals habe ich verstanden, dass man mehr als das ABC lehren muss. Man muss auch ein Soziologe sein, ein Psychologe, ein Ideologe und manchmal sogar ein Kriminologe. Man muss verstehen, wo die Leute herkommen und wo ihre Vorfahren herkamen.«
Das aufs Neue herauszufinden, hat er nun in der Türkei ein Jahr lang Zeit. Außerdem will er bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking das kleine russische Wunder auf großer Bühne wiederholen. Spätestens wenn ihm das gelingen sollte, wird wohl doch die NBA an seine Tür klopfen. Dass er sie ohne Bedingungen öffnet, damit sollten die Agenten der besten Basketballliga der Welt allerdings nicht zu fest rechnen. »Ich will kein Alibi-Coach werden, nur um der erste Israeli in der NBA zu sein«, sagt Blatt, »wenn, dann muss die Position mich finanziell und professionell reizen«. Bis das so weit ist, wird er als Russlands Nationalcoach sein bei Nikita Chruschtschow entlehntes Motto weiterverwenden: »Geht raus und zermalmt sie!«