von Rafael Seligmann
Noch ehe das neue Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens eingeweiht wurde, hatte es der jüdische Volksmund bereits mit einem treffenden Na- men bedacht: Charlottenburg. Das zielte in erster Linie auf die langjährige Gemeindevorsitzende Charlotte Knobloch, deren nimmermüder Energie, Engelszunge und unwiderstehlicher Willenskraft die Verwirklichung des Aufbauwerkes in erster Linie zu verdanken ist. Aber die Nomenklatur Charlottenburg hat noch eine tiefere Bedeutung, sie drückt die Sehnsucht der Münchner Juden nach einer Verwurzelung in der Stadtgeschichte aus, wie sie in der deutschen Metropole Berlin seit gut 150 Jahren besteht.
Die jüdische Historie Münchens hinkte jener in Deutschland meist hinterher. Lediglich im vergangenen Jahrhundert vollführten die Bayern und ihre Juden einige Purzelbäume, als deren Ergebnis das dortige Judentum zumindest für kurze Zeitphasen dermaßen aufblühte, daß es eine führende Rolle in Deutschland einnahm. Die jüdischen Gemeinden in Fürth und Ichenhausen wiesen bis zum Ersten Weltkrieg ein reges Gemeindeleben auf, während in München erst in Folge der 1848er Revolution die Zuzugsbeschränkung für Juden fallengelassen wurde. Fünfzig Jahre später aber hatten die Israeliten und ihr Umfeld auch in der weiß-blauen Hauptstadt eine maßgebende kulturelle Position eingenommen.
Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger verfaßte 1929 seinen München-Roman Erfolg. Seither hat sich im gesellschaftlichen Leben Münchens wenig geändert. Der Dichter unterstellte seinen Münchener Mitbürgern die Maxime: »Bauen, Brauen, Sauen.« Münchenkenner werden es nicht bestreiten.
Noch vor Feuchtwangers schriftstellerischem Wirken erbaute das Ehepaar Pringsheim in der Schwabinger Arcisstraße ihr Stadtpalais, das zu einem Mittelpunkt des Kulturlebens der Stadt wurde. Unweit davon leitete der Karikaturist und Satiriker Thomas-Theodor Heine die Zeitschrift Simplicissimus, indessen der zugereiste Lübecker und nichtjüdische Schriftsteller Thomas Mann die reiche Katia Pringsheim ehelichte und mit ihr in seiner Villa in der Poschinger Straße unweit des Isar-Flußes Hof hielt.
Diese bayrisch-jüdisch-demokratisch- liberale Melange war dem dahergekommenen österreichischen Habenichts und späteren Parteiführer und seinen Gefolgsleuten verhaßt. Sie vernichteten das frucht- bare deutsch-jüdische Biotop, vertrieben und ermordeten seine Träger und zerstörten schließlich ganz Deutschland.
Nach dem Krieg entwickelte sich die israelitische Kultusgemeinde nur zaghaft und quasi im Verborgenen. Symbolisch, daß sich die Hauptsynagoge Münchens sechzig Jahre lang in einem Hinterhaus in der Reichenbachstraße versteckte. Dessen ungeachtet erblühte in den achtziger Jahren die kleine jüdische Gemeinschaft und strahlte weit über die hebräische Gemeinde hinaus. Das jüdische Jugendzentrum in der Prinzregentenstraße ist seither eine kulturelle Begegnungsstätte. Die Germanistin Rachel Salamander baute ihre jüdisch zentrierte Literaturhandlung auf.
Junge jüdische Schriftsteller, die sich nicht mehr damit begnügen wollten, als Chronisten des Völkermordes und Musterjuden aufzutreten, fanden ihren Weg nach München. Hier entwickelte sich eine neue, aufsässige, aggressive Literatur, die manche trägen Philosemiten und ihre jüdischen Schutzbefohlenen erschreckte. Damit nahmen jüdische Autoren wieder ih- ren traditionellen Platz als »Ruhestörer«, so der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, des behäbigen deutschen Geisteslebens ein.
Die jüdischen Ruhestörer, die Schriftsteller und Journalisten, sind nach der Wiedervereinigung größtenteils nach Berlin weitergezogen. Ins wirkliche Charlottenburg. Kein jüdisches Elysium. Das sind gegenwärtig New York und Tel Aviv. Doch in Berlin ist das jüdische Leben im Schatten der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge ein anerkannter Teil des Stadtlebens.
Nun hat auch München sein Charlottenburg. Ob es Erfolg hat als Integrationsstätte für die zugewanderten Juden aus Osteuropa, als lichtes Bethaus und als kulturelle Brutstätte hängt an zwei seidenen Fäden: Der Besinnung von uns Juden auf unser religiöses Gesetz und der Beharrlichkeit und Chuzpe der modernen jüdischen Bänkelsänger, von Journalisten, Autoren, Schriftstellern und Kritikern. Diese lassen sich nicht züchten. Doch sie sind feine Seismographen des politischen Klimas einer Stadt und ihrer Menschen.
Ein Charlottenburg an der Isar gibt es bereits. Der Banker Alexander Dibelius und dessen Frau Andrea haben Thomas Manns im Krieg zerstörte Münchner Villa modernisiert aufbauen lassen. Wie einst entwickelt sich das Haus zu einer deutsch-jüdischen kulturellen Begegnungs- und Ausgangsstätte.
Rafael Seligmann ist Autor des Romans »Der Musterjude« (dtv).