von Inga Hettstedt
Ein neues Leben wollten sie anfangen, in einem Land, das sie vor allem aus dem Fernsehen kannten. Ihren neuen Wohnsitz konnten sich Nadja und Rudolf Porytskyy nicht aussuchen. Per Brief bekamen sie ihn mitgeteilt – Erfurt.
Das Ehepaar aus Donezk in der Ukraine zog einen Atlas zu Rate, um die thüringische Hauptstadt auf der Landkarte zu finden. Am 2. Juni 2004 erreichten sie das Wohnheim in der Bodestraße. Jüdische Zuwanderer und Asylbewerber leben hier auf engstem Raum zusammen.
Dennoch fühlten sich Nadja und Rudolf Porytskyy schon bald in Erfurt wohl. »Die Stadt ist wie im Märchen«, sagt Nadja mit leuchtenden Augen. Und ihr Mann Rudolf erklärt: »Die ältesten Gebäude in Donezk sind 100 Jahre alt. Dagegen ist Erfurt ein Museum.«
Erst vor einem Monat tauschten Nadja und Rudolf Porytskyy ihr Zimmer im Wohnheim gegen eine Drei-Zimmer-Dachgeschoßwohnung im Osten der Stadt. In der hellen Küche lassen die beiden 46jährigen bei Tee und Kuchen die vergangene Zeit Revue passieren: Fünf Jahre mußten sie warten, ehe ihre Ausreise von den ukrainischen Behörden genehmigt wurde. Eine nervenaufreibende Zeit.
Nadja berichtet von Ausgrenzung. »Die meisten Menschen in Donezk waren freundlich. Aber dann erschienen die ersten Judensterne an den Haustüren, vereinzelt gab es Beschimpfungen.« Das habe sie in ihrem Entschluß, wegzugehen, bestärkt.
Auch mit der Arbeit sei es immer schlechter geworden, sagt Rudolf. Der Diplomphysiker verdiente sein Geld zuletzt als Elektroniker. Oft habe er zwölf Stunden gearbeitet, aber das Geld sei stets knapp und der Job unsicher gewesen. Nadja, von Haus aus Chemikerin, arbeitete als Verkäuferin. Das angestrebte Studium der Tochter wäre einem Griff nach den Sternen gleichgekommen. »Sie hätte dort keine Zukunft gehabt«, sagt Nadja. Inwischen besucht Irina seit zwei Jahren das Albert-Schweitzer-Gymnasium. »Jetzt kommt sie sogar in den Spezialschulzweig«, berichtet ihr Vater stolz – ein Privileg, das nur den Besten zukommt. Doch eines macht die Eltern traurig: daß Irina kein Deutsch mit ihnen spricht. »Sie sagt immer, unser Deutsch sei so schlecht.« Dabei haben die Eltern inzwischen bereits zwei Deutschkurse besucht.
Ein Jahr nach ihrer Ankunft erfuhren Nadja und Rudolf Porytskyy in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen von dem Projekt EQUAL. Die 2002 gegründete Gemeinschaftsinitiative wird aus dem Europäischen Sozialfonds gefördert. Sie erprobt neue Wege, um Diskriminierung und Ungleichheiten von Arbeitenden und Arbeitsuchenden auf dem Arbeitsmarkt zu bekämpfen.
Bei EQUAL besuchten die beiden Porytskyys einen zweiten Sprachkurs. Gemeinsam mit anderen jüdischen Zuwanderern und Asylbewerbern saßen sie auf der Schulbank. »Das war sehr schön. Die Lehrer waren qualifiziert und nett«, schwärmt Nadja. Und Rudolf ergänzt: »Juden, Christen, Muslime – wir haben alle zusammen Deutsch gelernt und viel unternommen.«
Mit EQUAL kümmert sich die Thüringer Projektgruppe »Arbeit und Bildung International« um Asylbewerber und um jüdische Zuwanderer. »Fehlende Sprachkenntnisse und Schwierigkeiten bei der Anerkennung von beruflichen Abschlüssen«, nennt EQUAL-Mitarbeiter Frank Lipschik nur einige Probleme von Zuwanderern. Außerdem verlören viele durch jahrelange Erwerbslosigkeit ihre beruflichen Chancen.
Hier setzt das Projekt an. Nach einem sechsmonatigen Deutschkurs werden alle Teilnehmer an Praktikumsbetriebe vermittelt. Für die jüdischen Emigranten, die oft aus Ländern kommen, in denen früher Vollbeschäftigung herrschte, ist diese Arbeit mit großen Hoffnungen verbunden.
»Sicher eröffnet das Praktikum auch Möglichkeiten, aber feste Einstellungen sind die Ausnahme«, räumt Lipschik ein. Viele Betriebe könnten nur einstellen, wenn die Stellen finanziell gefördert würden. Andere Firmen wiederum setzen bereits auf den nächsten Praktikanten.
Nadjas Praktikum in einem Chemielabor endet diesen Monat. Während die Mitarbeiter von EQUAL in Verbindung zu dem Labor stehen, zeigt sich die 46jährige optimistisch: »Mein Chef hat gesagt, er wird versuchen, für mich einen Arbeitsplatz zu finden.« Sie weiß trotz der unsicheren Zukunft: So ein Praktikum birgt eine große Chance – die Chance der Begegnung. Sprachkenntnisse werden verbessert, Kontakte geknüpft, Vorurteile werden abgebaut, und das Selbstwertgefühl steigt.
Galina Brodskaya hat ihr Praktikum bereits beendet und zeigt stolz ihr Arbeitszeugnis. Drei Monate arbeitete sie am Buffet in einer Kantine. »Ich habe Brote belegt, das Dessert gemacht, abgewaschen«, erzählt die temperamentvolle Frau. Man mag gar nicht glauben, daß sie sich noch vor kurzem kaum traute, Deutsch zu sprechen.
Die Arbeit habe Spaß gemacht, sagt sie. Doch sei es für ihre 54 Jahre zu stressig gewesen. Sie würde lieber bei einem Buffetservice oder in einem Café arbeiten. EQUAL sucht jetzt nach einem neuen Praktikumsplatz.
Von der Möglichkeit der Ausreise erfuhr Galina, deren Mann Jude ist, zufällig im Fernsehen. Vor zwei Jahren kamen sie aus St. Petersburg nach Erfurt. Gleich nach ihrer Ankunft wurde ihr Mann operiert. Der 66jährige ist schwer herzkrank. »Er wird wohl nie Deutsch lernen«, bedauert Galina. Während er im Krankenhaus lag, erledigte sie Behördengänge und fand eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Plattenbau im Erfurter Norden.
Der Lieblingsplatz ihres Mannes ist der Balkon. Dort steht auch die große Satellitenschüssel – ihr Tor nach Rußland. Daß ein Teil ihres Herzens immer noch in St. Petersburg ist, liegt auch daran, daß ihre Kinder dort bleiben mußten. Neben der Gesundheit ihres Mannes ist eine Arbeitsstelle Galinas dringendster Wunsch.
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