von Miryam Gümbel
Der Altoberbürgermeister der Stadt München Georg Kronawitter wird ebenso wie Professor Julian Nida-Rümelin oder die Schauspielerin Elisabeth Wicki-Endriss am kommenden Sonntag, 9. November, Namen von Münchnern vorlesen, die während der Schoa ums Leben gekommen sind. Zum ersten Mal ist es gelungen, dass sich alle Münchner Stadtbezirke an dieser öffentlichen Lesung beteiligen. Neben Prominenten der Stadt beteiligen sich aber auch wieder viele Schüler. Gedacht wird mit der Namenslesung der 4587 jüdischen Bürger Münchens, die von den NS-Verbrechern ermordet wurden.
Dass es der Arbeitsgruppe »9. November«, der insbesondere die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern und die Vereinigung »Gegen Vergessen – Für Demokratie« angehören, erstmals gelungen war, alle Münchner Bezirksausschüsse zur Teilnahme an der Lesung zu bewegen, freute Präsidentin Charlotte Knobloch ganz besonders, denn so etwas gab es noch nie, weder in München noch anderswo in Deutschland. »Die zehnte Namenslesung am 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, die unter dem Motto ›Jeder Mensch hat einen Namen – Eine ganze Stadt gedenkt‹ steht, erreicht damit eine neue, einmalige Dimension«, so die Präsidentin. Zugleich erinnerte sie voller Trauer und noch immer vorhandenem Schmerz an den Tag vor 70 Jahren, als sie an der Hand ihres Vaters die Rauchwolken über der Ohel-Jakob-Synagoge sah. Durch einen Anruf war ihr Vater gewarnt worden, an diesem Abend nicht in der Wohnung zu bleiben, und so war auch das kleine Mädchen Charlotte an der Hand des Vaters in der Stadt, als der Terror dort tobte. Das Kind hatte Tränen in den Augen. »Ohel Jakob war ja inzwischen unsere Synagoge. Die Hauptsynagoge war bereits im Sommer 1938 zerstört worden.« In der Umgebung der Herzog-Rudolf-Straße waren auch Schule und Kindergarten. Schnell zog Vater Neuland seine kleine Tochter weiter – schließlich sollte niemand die Tränen bemerken. Nur nicht auffallen, das wäre gefährlich gewesen. Mehr zu ihren Erinnerungen wollte Charlotte Knobloch nicht sagen. Ob sie eine Botschaft habe in Zusammenhang mit dem Antisemitismus, war eine der weiteren Fragen bei der Pressekonferenz. Antisemitismus, so antwortete die Präsidentin, sei keine deutsche Erfindung. Antisemitismus und Neonazis gebe es auch in anderern Ländern. Über das Internet hätten sie, wenn es um das Thema Judentum geht, bereits eine starke Macht über Jugendliche gewonnen – auch in Amerika und Kanada. Ihr Appell: »Wir müssen versuchen zu verhindern, dass diese böse Saat, die den Antisemitismus predigt, nicht noch weitere Möglichkeiten bekommt.« Mit der Lesung der Namen der Münchner Opfer des nationalsozialistischen Terrors am Gedenkstein der ehemaligen Münchner Hauptsynagoge und an vielen anderen Plätzen in der Stadt werde an die Geschichte erinnert. Charlotte Knobloch fasste zusammen: Vor 70 Jahren begann mit der Reichspogromnacht das unvorstellbare Unheil für das deutsche und europäische Judentum. Am 9. November 1938 hetzte im Alten Münchner Rathaussaal der ranghohe Naziverbrecher Goebbels mit antisemitischen Hassparolen die Massen auf. Er rief zu Brandstiftungen und zur Zerstörung jüdischen Eigentums auf. In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden fast alle Synagogen Deutschlands verbrannt oder zerstört, Geschäfte geplündert, Wohnungen verwüstet, jüdische Bürger misshandelt, mit Füßen getreten und verhaftet.
Die Reichpogromnacht markierte den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Deutscher hin zur systematischen Verfolgung und gezielten Ermordung wehrloser Kinder, Frauen und Männer. 1910 lebten in München noch 11.000 jüdische Bürger, im Jahr 1945 gab es 84 Überlebende. 4587 jüdische Münchner wurden von den NS-Verbrechern deportiert und in den Konzentrationslagern umgebracht. Durch das Verlesen ihrer Namen erhalten die Namenslosen wieder ein Gesicht und eine Geschichte. Die Organisatoren hoffen, dass zwischen 9 und 17 Uhr an verschiedenen Stellen der Stadt möglichst viele Münchner zu der Namenslesung kommen. Die genauen Orte und jeweiligen Zeiten sind im Internet zu finden unter www.ikg-muenchen.de, Aktuelles. Die Namenslesungen, so Charlotte Knobloch, »setzen ein Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus. Da der Antisemitismus nicht nur bei den rechtsextremistischen Banden zu finden ist, sondern mitten in der Gesellschaft angekommen ist, appelliere ich an alle Bürger dieser Stadt und dieses Landes, ein klares Bekenntnis für Demokratie und Toleranz abzugeben. Der 9. November ist ein symbolträchtiger Tag, an dem jeder Bürger zeigen kann, dass München, aber auch ganz Deutschland bunt und nicht braun ist.«