von Malte Oberschelp
Gerade erst hat er seine Abiturklausur in Geschichte geschrieben, doch im Hinterkopf behält Stefan Braun ein anderes Projekt. Mit Geschichte hat es ebenfalls zu tun, wenn auch nicht mit Schule. Der 19-jährige Schüler des Duisburger Steinbart-Gymnasiums erkundet seit mehreren Jahren ein weitgehend unerforschtes historisches Gebiet: die Aktivitäten des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Deutschland.
Wenig bekannt ist dieser Aspekt deshalb, weil der Arbeiterbund in erster Linie eine russische beziehungsweise polnische Organisation war. Gegründet wurde der Jüdische Arbeiterbund 1897 in Vilnius als Reaktion auf die anhaltenden Pogrome und die Diskriminierung der Juden im Zarenreich. Der Bund verstand sich als sozialistische Partei, deren Ziel die kulturelle Autonomie aller osteuropäischen Juden war. Dabei ging es, über politische Staatsgrenzen hinweg, um die Anerkennung als eigene jüdische Nation mit eigener Sprache, dem Jiddisch.
Deshalb lehnte der Bund den Zionismus ab. Er wollte die Situation der Juden vor Ort verändern. Nach der Oktoberrevolution 1917 vertrieben die Bolschewiken den Jüdischen Arbeiterbund, obwohl der die Ziele der Revolution anfangs unterstützte. Das Zentrum des Bundes verlagerte sich 1920 in die gerade unabhängig gewordene polnische Republik.
»Ich bin auf das Thema 2005 oder 2006 gestoßen«, erzählt Stefan Braun. Erste Recherchen führten ihn ins Salomon-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-
Essen, woraufhin er dort 2007 ein Schülerpraktikum absolvierte. Da begann Stefan Braun, betreut von Mitarbeitern des Instituts, der Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds in Deutschland systematisch nachzugehen. »Es gibt viele Hin- weise auf Aktivitäten des Bundes in Deutschland, aber sie sind nirgendwo zusammengefasst«, sagt Stefan Braun. Genau das tat er schließlich im April 2008 mit einem zweiseitigen Artikel in der Institutszeitschrift Kalonymos.
Demnach gab es in Deutschland bereits 1898 die erste bundistische Gruppe. Bis zum Ersten Weltkrieg waren in vielen Städten Gruppen entstanden, auch wenn manche davon nur zwei bis drei Mitglieder hatten. Teilweise handelte es sich um jüdische Studenten aus Russland, die in ihrer Heimat nur unter starken Einschränkungen studieren durften. Außerdem emigrierten viele Bund-Mitglieder nach Deutschland, weil die zaristische Polizei hart gegen politische Parteien vorging. Von Deutschland aus versuchten die Emigranten, teils unterstützt durch SPD-Mitglieder, den Jüdischen Arbeiterbund in Russland zu unterstützen.
»Es gab ein Schmuggelnetzwerk, das vom Vorwärts-Gebäude in Berlin betrieben wurde und bundistische Zeitschriften von der Schweiz nach Russland einschleuste«, berichtet Braun. »Sozialdemokraten, die während der Sozialistengesetze 1878 bis 1890 Erfahrungen im Schmuggeln gesammelt hatten, gaben ihre Techniken an Bundisten weiter.« Zum Beispiel sogenannte Tshes, die Tshemodan-Koffer mit doppeltem Boden, in denen Literatur und Zeitschriften wie Der Yidisher Arbeter versteckt werden konnten. Im Ersten Weltkrieg kamen russische und polnische Juden zur Zwangsarbeit nach Deutschland, von ihnen gingen Gruppen in den Industriegebieten aus. Das Zentrum der Aktivitäten war jedoch Berlin. In den 20er-Jahren war die Stadt Anlaufstelle für die jüdische Emigration aus Osteuropa. In Berlin befand sich bis 1933 das Auslandsarchiv des Bundes.
Zahlreiche weitere Details hat Stefan Braun herausgefunden. Seine Quellen waren jiddische Memoirenliteratur von Bund-Mitgliedern, Autobiografien von Sozialdemokraten, ein dreibändiges Bund-Lexikon aus den 50er-Jahren, das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, das New Yorker Yivo-Institut for Jewish Research oder die Webseite www.compactmemory.de ein Archiv jüdischer Zeitschriften und Zeitungen.
Auch zur Historikerin Gertrud Pickhan nahm Stefan Braun Kontakt auf und erhielt weitere Hinweise. Die Professorin am Lehrstuhl für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Freien Universität Berlin ist Expertin auf dem Gebiet des Jüdischen Arbeiterbunds. Unter anderem hat sie in einem Aufsatz dessen enge Verbindung zur Sozialdemokratie nachgezeichnet, darunter den Kontakt Willy Brandts zur bundistischen Nachwuchsorganisation Yugnt Bund. »Ich war beeindruckt, dass Stefan Braun in seinem Artikel alle grundlegenden Fakten zusammengetragen hat«, sagt Gertrud Pickhan. »Viel mehr als in seinem Artikel und in meinem Aufsatz ist über den Bund in Deutschland bisher nicht publiziert worden.«
Dennoch registriert die Professorin, dass das Thema Jüdischer Arbeiterbund gerade bei jungen Wissenschaftlern an Bedeutung gewinnt. »Man könnte über den Bund in Deutschland noch einiges machen, aber das erfordert eine richtige Detektivarbeit«, sagt Pickhan. »Allein wie das Bund-Archiv einen Tag vor der Beschlagnahme aller Archive durch die Nazis nach Paris geschafft wurde, ist eine Geschichte, die sich wie ein Krimi liest.« Der Forschungsbedarf ist da. Die deutsche Geschichte des Bundes reicht über Gruppen in den Displaced-Persons-Lagern bis hin zu Bund-Mitglied Willy Eichler, dem Architekten des Godesberger Programms der SPD. Aber immer noch liegen viele Aspekte im Dunkeln.
Stefan Braun schließt sich Getrud Pickhans Einschätzung an. »Vor einigen Jahren konnte mir kaum jemand etwas über den Bund in Deutschland sagen«, meint er, »aber jetzt habe ich das Gefühl, dass mehr über das Thema gearbeitet wird.« Er wird seine Forschungen nach dem Abitur fortsetzen. Und vielleicht wird auch einmal mehr daraus werden als ein Hobby: Stefan Braun möchte, wie könnte es anders sein, Geschichte studieren.