Spätestens seit dem Beginn der Weltfinanzkrise ist »Chance« das Schlagwort der politischen Gegenwart. Chancen sieht man im Verfall des Kapitalismus, in Insolvenzen und arbeitspolitischen Katastrophen. Je schneller sich das Glas leert, desto entschiedener weist man darauf hin, dass es immer noch halb voll ist. Nun zieht die Integrationsdebatte nach: Mit Blick auf den gesetzlichen Zwang für die hier geborenen Kinder ausländischer Eltern, sich spätestens im Alter von 23 Jahren für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, spricht Hartfrid Wolff von »einer Chance«. Der Experte für Ausländerrecht in der FDP-Bundestagsfraktion sieht in der Entscheidungspflicht eine Möglichkeit für den Betroffenen, »sich darüber klar zu werden, wo er seine Zukunft sieht«. Wolff ist zudem Hobbypsychologe, liefert er doch eine Diagnose gleich mit: Wer sich gegen die deutsche Staatsbürgerschaft entscheide, wolle sich »auch emotional nicht vollständig integrieren«. Zwang als Chance – ein neues Konstrukt der Integrationspolitik?
Einige Parteikollegen sind allerdings nicht Herrn Wolffs Meinung. Zum Beispiel die beiden ehemaligen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Liselotte Funcke und Cornelia Schmalz-Jacobsen. Von Vertretern der Grünen, der SPD und der Linkspartei ganz zu schweigen. Auch Rita Süssmuth von der CDU tritt entgegen der Parteilinie für die Abschaffung des sogenannten Optionszwangs ein. Wie andere Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft unterstützt sie eine neue Kampagne gegen das heutige Einbürgerungsmodell.
Die Regelung des Staatsbürgerschaftsrechts aus dem Jahr 1999 ist ein unschönes Beispiel für die Gleichzeitigkeit von parteitaktischer Kompromisssuche und politischem Unsinn. Nach der populistischen Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit, die CDU-Mann Roland Koch zum hessischen Ministerpräsidenten gemacht hatte, glaubte Rot-Grün, sich mit den Oppositionsparteien CDU und FDP auf Bundesebene verständigen zu müssen. Das Ergebnis war und ist ein Grauen. Das Gesetz führt in unseren Alltag etwas ein, was weder rechtlich noch politisch auf Dauer haltbar ist: den Sonderstatus des »schwebend« Deutschen. Obwohl hier geboren, wird den Betroffenen lediglich eine Gnadenfrist zum Loyalitätsbekenntnis eingeräumt. Doch wie soll einer als Deutscher aufwachsen, wenn er nur Staatsbürger auf Widerruf ist? In welcher verqueren Identitätswelt wacht einer auf, der per Post aufgefordert wird, sich zu entscheiden, welchen Teil seiner selbst er bereit ist aufzu- geben? Dann lieber gar keine Doppelstaatlichkeit als eine, die junge Menschen emotional zerreißt, nur, weil unsere Parlamentarier sich nicht festlegen wollen.
Das Problem ist mehr als ein Streit über Formalien. Die neue deutsche Realität hat die Vorstellungskraft unserer Gesetzgeber längst überholt. Die Abgeordneten, die 1999 über das Gesetz befinden mussten und nun alle Änderungen ablehnen, haben mehrheitlich keine Ahnung, worüber sie bestimmen. Wie denn auch? Die meisten müssen sich höchstens zwischen der Mitgliedschaft im Schützenverein oder Tennisklub entscheiden. Für sie ist die Staatsbürgerschaft ein toter Rechtsbegriff und Identität ein unteilbares Eigentum – wie das Sommerhäuschen, in das nicht mehr als eine Familie hineinpasst. Wer mehrere Identitäten hat, gilt als staatspolitisch suspekt und psychologisch bemitleidenswert.
Die Diskussion zeigt aber nicht nur den mangelhaften Umgang mit Mehrfach-Identitäten. Diese gehören mittlerweile zum Alltag – ob in den jüdischen Gemeinden oder in türkischen Communitys. Doch die Debatten darüber offenbaren die immer noch verkrusteten Fundamente unseres Selbstverständnisses als Gesellschaft. Die Vorstel- lung, hier aufgewachsene Ausländerkinder könnten sich erst durch einen Willensakt zu »echten« Deutschen »entpuppen«, offenbart ein fast mythisch überhöhtes Selbstbild. Es zeigt uns eine Gemeinschaft, die sich nur widerwillig vom Blutprinzip der Staatsangehörigkeit lösen mag.
Der Staatsrechtler Joseph Weiler hat Mitte der 90er-Jahre vermutet, dass nationale Loyalität der moderne Ersatz für das religiöse Bekenntnis geworden sei. In der Tat weist vor allem die oft unsachliche Diskussion um die Mehrstaatlichkeit Sakralisierungszüge auf: Wer mehr als einen Pass sein Eigen nennt, wird als staatspolitischer Götzendiener diffamiert.
Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht wollte man Ende des 20. Jahrhunderts einen Weg in die deutsche Vielfaltszukunft ebnen. Nun sollte man die Tore in diese Zukunft auch denjenigen aufschließen, die in Deutschland aufgewachsen sind und sich diesem Land genauso zugehörig fühlen wie der Türkei, Frankreich oder Russland. Es ist an der Zeit, auch in dieser Frage staatspolitisch endlich Tacheles zu reden.
Identität