von Marina Maisel
Man kennt es aus Museen: »Bitte nicht anfassen.« Eine solche Aufforderung steht auch an dem Gemälde »Ein Jude am Fenster« von Felix Nussbaum. Auf ihm ist ein junger Mann mit Judenstern zu sehen. Doch plötzlich steigt er aus dem Bild und tritt zu den Akteuren auf der Bühne des Hubert-Burda-Saales im Münchner Ge-meindezentrum. Der im Gemälde eingefrorene Moment wird zur lebendigen Szene.
»Bilder leben – lebende Bilder« heißt dieses Theaterprojekt des Jugendzentrums der Münchener Kultusgemeinde, das die Theatergruppe »Lo Minor« zusammen mit den Kollegen von »Bet Agnon« der Jewish Agency aus Moskau durchführt. Die Idee dazu hatte Anastasia Komerloh, die Leiterin von »Lo-Minor«. Sie wollte Kunstwerke von in der Nazizeit verfolgten jüdischen Künstlern in einem Schauspiel beleben. Mit diesem Konzept bewarb sich Lo-Minor um ein Förderprogramm für internationale Jugendprojekte der Europeans-for-Peace-Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. Es sollte zu einem der erfolgreichsten Projekte des Jahres 2007 werden. Mit einer weiteren Hilfe durch den Bayerischen Jugendring konnte »Lo-Minor« dieses Vorhaben gemeinsam mit der russischen Jugendtheatergruppe realisieren.
Nach einem erfolgreichen Auftritt in Moskau führten die russischen und deutschen Schauspieler jetzt das Stück in München auf. Zum Einstudieren waren nur zehn Tage vorgesehen. Und das auf Deutsch: eine echte Herausforderung. Vieles war schon durch die Aufführung in Moskau vorbereitet. Zum Thema Schoa hatten die Schauspieler zunächst 14 Kunstwerke ausgesucht, die vornehmlich aus der Zeit zwischen 1941 und 1944 von Künstlern wie Felix Nussbaum und Charlotte Burashova, Auriel Aurett und Aizik-Adolf Fedor, David Oler und David Ludwig Bloch entstanden sind. Wichtig bei der Auswahl war den Jugendlichen, wie viel vom persönlichen Schicksal der Maler sie widerspiegelten. In der Beschäftigung mit ihnen wurden die Bilder für die jungen Darsteller von Tag zu Tag lebendiger.
Pavel Miloslavin, der Leiter von »Bet Agnon«, steuerte passende Texte bei. Dialoge von Elie Wiesel aus Eine Generation später, Gedichte des jungen Häftlings Alla Eisenscharf, Texte von Bulat Okudzhava, Alexsander Galitsch und aus dem Buch des Propheten (Ekklesiast) kamen hinzu. Für die Theaterszenen, die in der Gegenwart spielen,verfassten die Jugendlichen die Texte selbst.
Um die Szenen so authentisch wie möglich zu gestalten, beschäftigten sich die Akteure auch eingehend mit Dokumenten und Zeugnissen der Schoa. Sie boten wichtige Informationen für Szenenproben und die Entwicklung von Bühnenbildern.
Für die Münchener Aufführung malten die Münchner Künstler Alla und Alexander Amelkin die Bilder für die Bühne. Die Kostüme nähten sich die Schauspieler selbst – parallel zu den Proben. Katharina Schmeer übersetzte die Texte ins Deutsche.
Dem Eintauchen in das Thema diente eine Führung durch das jüdische München, eine Fahrt nach Dachau zur KZ-Gedenkstätte und später die Arbeit mit den Texten auf Deutsch. All das hat viel dazu beigetragen, das Holocaustthema zu erspüren. Fedor Rusin von »Lo-Minor«, der später einmal professioneller Schauspieler werden will, bemerkt: »Die Vorbereitung des Stückes ist eine sehr starke emotionelle Arbeit.« Immer wieder treten den Schauspielern bei den Proben Tränen in die Augen. Sie lernen die Texte nicht nur auswendig, sondern erleben und durchleiden, was sie erzählen.
Als die jüngste Schauspielerin der Moskauer Gruppe, Yana Oklander, ihren Monolog spricht, glaubt niemand, dass dieses Mädchen erst seit zehn Tagen Wörter auf Deutsch kennt. »Es war so schwierig für mich, den Text auf Deutsch zu lernen. Aber ich hatte den Text parallel in zwei Sprachen bekommen, so dass ich immer wusste, was ich sage. Die Deutschen haben mir beim Lernen sehr geholfen – sie ha- ben den Text vorgelesen und ich habe ihn nachgesprochen«, berichtet sie. Sprachprobleme hatten die Münchner nicht; für sie ist Russisch ihre Muttersprache.
Dreißig Jugendliche aus Russland und Deutschland beleben während 80 Minuten ununterbrochen Bilder aus fernen Zeiten und verbinden sie mit ewigen Themen von damals und heute. Glück, Liebe, Eltern und Kinder: Themen, die hier wie dort, immer und überall eine wichtige Rolle spielen. Vergangenheit und Gegenwart verbinden sich. Die Zettelchen mit dem Hinweis: »Bitte nicht anfassen!« werden zerrissen. »Fassen sie die Geschichte an, fassen sie das Leben anderer Menschen an, befassen sie sich damit!« – das war zuletzt die Botschaft, die von der Bühne ins Publikum getragen wurde.
Dieses bestätigt dies mit lautem Applaus, einer Menge Blumen und immer wieder feuchten Augen. »Sie müssen das Stück der ganzen Welt zeigen. Alle müssen das wissen, was Holocaust heißt«, ermuntert ein junger Mann die Akteure spontan nach der Vorstellung.
Die beiden Theatergruppen wollen das Stück gern weiterleben lassen. »Sehr symbolisch steht ein Globus in der Mitte des Hauptbildes«, sagte Pavel Miloslavin, »wir haben nun das Stück in zwei Ländern gespielt und – so Gott will – war das nicht das letzte Mal.« »Wir können es in Israel spielen, auf Hebräisch.« »Das schaffen wir«, ist die junge Schauspielerin Anastasia Gomberg überzeugt. »Russisch, deutsch – dann sprechen wir auch hebräisch.«