von Veronika Wengert
Rafael Pinto stellt sein Tablett auf einen kleinen Holztisch, der mit Plastikblumen und karierter Tischdecke geschmückt ist. Heute gibt es Moussaka-Auflauf, mit Spinat gefüllte Blätterteigpasteten, Krautsalat und Pflaumen. Immer wenn er sich in Belgrad aufhalte, komme er zum Essen hierher, erzählt der Rentner. Das seien sechs Monate pro Jahr, die übrige Zeit lebe er in Amerika. Pinto ist an diesem Nachmittag einer von gut einem halben Dutzend Gästen in der koscheren Küche in Belgrad, die sich im Untergeschoß der Synagoge befindet, im Zentrum der serbischen Hauptstadt.
Die Idee zu dieser öffentlichen Mensa sei vor fünf Jahren entstanden, erinnert sich der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Belgrad, Raka Levi. Mittlerweile sei das Angebot gut angenommen worden: 1.300 Essen werden hier monatlich ausgegeben. Für umgerechnet 1,20 Euro pro Menü stehen abwechselnd Fleisch, Fisch oder vegetarische Kost auf dem Speiseplan. Holocaust-Opfer erhalten Rabatt, Gäste zahlen ein wenig mehr. Wer bettlägerig ist, bekommt die koscheren Speisen von zwei freiwilligen Helfern nach Hause geliefert. Das Projekt sei jedoch nur mit Unterstützung internationaler Organisationen möglich gewesen, betont Levi.
Im Erdgeschoß, direkt über der Mensa, befindet sich die in Serbien einzige aktive Synagoge. Sie ist mit dunkelbraunen Holzbänken und etwa einem halben Dutzend Torarollen ausgestattet. Steigt man das Treppenhaus empor, gelangt man zu Wohnungen, einem Computerraum und dem Jugendtreff der Gemeinde, der mit Fernseher, Sofa, Bar und Bücherecke modern eingerichtet ist. Ein Jahr lang ist das hellgraue Gebäude im neoklassizistischen Stil nun umfassend saniert worden, erst kurz vor Rosch Haschana wurde das Baugerüst abgenommen.
Den Grundstein für die aschkenasische Synagoge hatte der jugoslawische König Alexander I. Karadjordjevic vor genau 80 Jahren gelegt, im Sommer 1926. Heute wird die Synagoge jedoch von allen 2.200 Juden in Belgrad, die überwiegend Sefarden sind, gleichermaßen genutzt. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude als Bordell mißbraucht, schon bald nach Kriegs- ende jedoch wieder an die Gemeinde zurückgegeben. Nur wenige hundert Meter entfernt stand bis 1941 eine weitere Synagoge, die bei Luftangriffen zerstört wurde. In Zemun, mittlerweile ein Stadtteil von Belgrad, waren bis zum Zweiten Weltkrieg zwei weitere Synagogen.
An einem durchschnittlichen Schabbat würden sich etwa 60 bis 70 Gläubige zum Abendgebet einfinden, während es an Feiertagen bis zu 400 Gemeindemitglieder seien, schätzt Isak Asiel. Er ist der einzige und zugleich Hauptrabbiner Serbiens und betreut die jüdischen Gemeinden seit nunmehr elf Jahren. Asiel hält häufig Gastvorträge an der Universität. Meist gehe es dabei um philosophische und ethische The-
men, wie etwa Gewalt in der Familie, aber auch um jüdische Traditionen, erzählt Asiel. Bislang hat der Rabbiner zwei Gebetsbücher ins Serbische übersetzt. Asiel legt dabei Wert darauf, daß die Bücher in Lateinschrift gedruckt werden, obwohl im Serbischen überwiegend das kyrillische Alphabet verwendet wird. Dadurch seien die Werke auch den Gemeinden in anderen ehemaligen Republiken Jugoslawiens zugänglich, in denen Serbisch zwar verstanden, jedoch Lateinschrift verwendet werde, erklärt Asiel. Der Rabbiner kümmert sich auch um die Tierschlachtung, der koschere Wein wird jedoch aus Wien angeliefert.
Nur wenige Straßenzüge weiter, in der König-Petar-Straße im Zentrum von Belgrad, schlägt das administrative Herz aller zehn jüdischen Gemeinden im Land. Ein mehrstöckiges Herrenhaus, das neben Büroräumen ein jüdisches Geschichtsmuseum beherbergt. In dem Bühnensaal mit Stuckdecke im Erdgeschoß tritt der serbisch-jüdische Gebrüder-Baruh-Chor häufig auf, der seit nunmehr 126 Jahren besteht. Der Aufzug gilt mit seinen über 80 Jahren als einer der vier ältesten in der ganzen Hauptstadt, erzählt man sich. In dem Haus hat die jüdische Gemeinde Belgrad ihren Sitz, aber auch der Dachverband der jüdischen Gemeinden Serbiens. Dieser wird seit nunmehr zwölf Jahren von Aca Singer geleitet. Der 84jährige Präsident blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Als einziger seiner Familie hat er das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Mehr als 60 seiner Angehörigen seien dort ermordet worden. In ganz Jugoslawien seien nur 15.000 von einst 82.000 Juden mit dem Leben davongekommen, die Hälfte der Überlebenden sei nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert. Singer stammt aus der Batschka an der Grenze zum heutigen Ungarn. Wie die meisten jüdischen Familien dort waren auch die Singers dreisprachig – sie beherrschten Ungarisch, Serbisch und Deutsch.
Aca Singer war bereits zu sozialistischen Zeiten in der jüdischen Gemeinde aktiv, als er noch Bankdirektor war. Hindernisse von Seiten des Tito-Regimes habe es keine gegeben. Auch damals hätten Rabbiner Ehen und Beerdigungen nach jüdischem Brauch vorgenommen. Selbst nachdem 1967 die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Jugoslawien zum Stillstand gekommen waren, hätten die Gemeinden weiter Kontakte gepflegt, sagt Singer. »Die Regierung war sicher nicht verliebt in uns, jedoch hat sie sich uns auch nicht in den Weg gestellt.«
Zu Zeiten Jugoslawiens sei der Dachverband in Belgrad noch für alle Gemeinden in den sechs Teilrepubliken des Landes zuständig gewesen. Man habe das Ladoslaw-Schwarz-Altersheim in Zagreb gehabt, in dem Juden aus ganz Jugoslawien ihren Lebensabend verbracht hatten. Im jüdischen Ferienheim in Pirovac an der Adriaküste habe man Urlaub gemacht. Beide Einrichtungen würden nun zu Kroatien gehören. Die serbischen Juden würden heute in einem Flügel eines Belgrader Altenheims betreut werden.
Der Zerfall Jugoslawiens habe das Bild der Belgrader Gemeinde verändert: So seien im jüngsten Bürgerkrieg 1.100 jüdische Flüchtlinge aus der umkämpften bosnischen Hauptstadt Sarajewo nach Belgrad geflohen. Bis heute seien etwa 200 von ihnen geblieben. Und 1999, während der Nato-Luftangriffe auf Serbien, seien rund 50 Juden aus dem Kosovo nach Serbien geflohen – wo sie seither leben. Ob sie jemals wieder nach Pristina zurückkehren werden, sei fraglich, sagt Singer. Viele Juden seien während der Nato-Bombardements auch in der Synagoge untergeschlüpft, andere wurden nach Budapest evakuiert und sind später nach Israel ausgereist. Man habe damals einen Krisenstab in der Gemeinde eingerichtet, erinnert sich Singer.
Im Mai diesen Jahres, als die Montenegriner für die Unabhängigkeit vom Staatenbund mit Serbien gestimmt hatten, ist eine neue Veränderung auf Aca Singer zugekommen: Seine Organistion trägt nicht mehr die Bezeichnung »Verband jüdischer Gemeinden in Serbien und Montenegro«. In der Praxis habe sich dadurch allerdings kaum etwas verändert, erklärt Singer. Denn in Montenegro gibt es keine jüdische Gemeinde,