von Matt Siegel
Alexander Ostrouch hat guten Grund, dem ehemaligen KP- und Staatschef Leonid Breschnew dankbar zu sein. Denn der hat ihm dazu verholfen, eines der komplexesten und grundlegendsten jiddischen Wörterbücher, die jemals verfasst wurden, auf den Weg zu bringen: in Weißrussisch, einer Sprache, die die wenigsten seiner Landsleute beherrschen.
Es war die jiddische Übersetzung der Breschnew-Memoiren, die sich für Ostrouch, einen Minsker Intellektuellen, Restaurator und Jiddisten als äußerst nützliches Werkzeug erwies. Sie »versetzte uns in die Lage, unser eigenes Wörterbuch zu erarbeiten«, sagt Ostrouch. »Ich habe Kollegen, die sich immer noch an ganze Passagen aus Breschnews Büchern auf Jiddisch erinnern.«
Breschnew, Sowjetführer von 1964 bis 1984, hatte veranlasst, dass seine Memoiren in alle Sprachen der damaligen Sowjetunion übersetzt wurden. Zehn Jahre seines Lebens widmete Ostrouch seinem Jid- dischwörterbuch-Projekt. »Das ist für mich keine Freizeitbeschäftigung und kein Beruf, es ist mein Leben«, sagt er. »Ich tue es für mich selbst. Es ist kein kommerzielles Projekt, nichts, mit dem sich Geld machen lässt.«
Ostrouch, linguistischer Autodidakt, spricht Ukrainisch, Litauisch und Jiddisch zusätzlich zu seiner Muttersprache Russisch und der Sprache seines Landes, Weißrussisch. Seine Entscheidung, zehn Jahre seines Lebens mit der Erarbeitung eines Wörterbuches zu verbringen, das zwei beinahe tote Sprachen in Beziehung setzt, ist an sich schon interessant genug. Hinzu kommt, dass Ostrouch nicht einmal jüdisch ist.
In Weißrussland ist es nicht ungewöhnlich, dass Nichtjuden Projekte zum Gedenken an das jüdische Leben im Land durchführen – vielleicht wegen des tragischen Erbes, das sie mit den Juden ihres Landes teilen. So errichtet der Künstler Richard Grusha Denkmäler für Juden an wenig bekannten Orten von Massenhinrichtungen. »Die Mentalität des Sowjetmenschen war sehr ungewöhnlich«, sagt Ostrouch, der mit unscheinbarem Pullover, kurz geschorenem Bart und Nickelbrille die Rolle des sowjetischen Intellektuellen perfekt erfüllt. »Man konnte kein ei- genes Geschäft betreiben. Man wurde entweder zum Alkoholiker, oder man flüchtete sich in eine Art abstrakte Welt. Die Welt der Kunst zum Beispiel, die Welt der Musik oder die Welt der Sprache. Ich interessierte mich für Sprachen.«
Was Ostrouchs Projekt von anderen unterscheidet, ist das schiere Ausmaß und die merkwürdige säkulare Religiosität, die sein Leben seit zehn Jahren beherrscht. Jiddisch lernte Oustrouch im Juli 1984 kennen, als er mit ein paar anderen Kunststudenten nach Slonim, einer Kleinstadt im Westen des Landes, geschickt wurde, um dort eine baufällige Synagoge aus dem 16. Jahrhundert zu restaurieren. Ostrouch war vom ersten Augenblick an von dem Projekt gefesselt.
Wenn er in der Küche seiner Mietwohnung in Minsk von der ersten Begegnung mit der sterbenden Sprache erzählt, leuchten seine Augen. »Jiddisch war für mich deshalb so interessant, weil es eine sehr ungewöhnliche Sprache ist. Es ist ein einziger Mischmasch«, sagt er. Er meint die deutschen, russischen und hebräischen Elemente, aus denen sich Jiddisch zusammensetzt. »In der Sowjetunion, wo alles so abgeschottet war, war diese Fähigkeit zur Einverleibung für uns Studenten eine Offenbarung.«
Vor der Bolschewistischen Revolution 1917 war Jiddisch jahrhundertelang ein fester Bestandteil des Lebens in Weißrussland. Bis zum Zweiten Weltkrieg war es neben Russisch, Weißrussisch und Polnisch eine der vier offiziellen Sprachen. Dann kam der Bruch: Belarus verlor zwischen 1941 und 1945 zwei Millionen Menschen und damit 25 Prozent seiner Bevölkerung. Etwa 810.000 von ihnen waren Juden – sie machten 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg aus. An sie erinnert das Jarma-Denkmal in Minsk. Es wurde am Ort des jüdischen Ghettos errichtet und war in der Sowjetunion das erste Mahnmal, das nicht nur auf das Leiden der sowjetischen Opfer, sondern ausdrücklich auf das Leiden der jüdischen Opfer verwies.
In der Folge des Holocaust und der äußerst nationalistischen Sprachenpolitik des Sowjetregimes, die überall dem Russischen den Vorzug gab, starben sowohl das Jiddische als auch das Weißrussische beinahe aus. Bis 2005 unterrichtete keine öffentliche Schule in Minsk mehr Weißrussisch.
Ostrouchs über 1.000 Seiten starkes Wörterbuch baut auf älteren Arbeiten weißrussischer Juden auf, namentlich den jiddischen Wörterbüchern von Shmuel Plavnik aus dem Jahr 1932 und der Veröffentlichung von Sofia Rohkind von 1940. Ein großer Teil der phraseologischen Informationen des neuen Wörterbuchs wurde aus diesen Werken übernommen.
Darüber hinaus habe er dem Jiddischen Institut im litauischen Wilna, in dem er von 1998 bis 2004 sowohl Jiddisch, die Sprachgeschichte und die Geschichte des weißrussischen Judentums studierte, viel zu verdanken, räumt Ostrouch ein. Finanziert wird sein Projekt zum größten Teil von Andrei Gorbenko in Sankt Petersburg. Es ist ein Meilenstein in den Bemühungen, der Jiddistik neues Leben einzuhauchen. Das Wörterbuch enthält eine gründliche und vollständige Erfassung jiddi- scher Phraseologie sowie akribisch aufgeschlüsselte etymologische Daten.
Ostrouchs Leidenschaft reicht lang zurück. Als Lehrer einer Minsker Kunstschule ließ Ostrouch in den 90er-Jahren seine Schüler mit russischen Klassikern jiddische Kinderlieder auswendig lernen. Er ist mit einer jüdischen Frau verheiratet und unterrichtet seine beiden Kinder zu Hause. Sie lernen, eine Sprache zu sprechen und zu lesen, die mehr ihr Erbe als das seine ist.
Ostrouch versteht durchaus diejenigen, die ihn für sein Engagement in einem so seltenen Projekt kritisieren, doch er lässt sich davon nicht stören. Er erinnert sich an etwas, das er vor Jahren in einem Interview mit dem sowjetischen Schriftsteller Samuel Marschak gelesen hat. »Jeder sollte in seinem Leben etwas völlig Unnützes tun«, sagt er. »Es könnte sich herausstellen, dass es gerade das Wertvollste ist, das er je gemacht hat.«