Die Chance nutzen
von Rafael Seligmann
Ich wünsche mir ein »Wort zum Schabbat« im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Zu diesem Zweck muss das TV-Programm nicht umgestaltet werden. Denn das »Wort zum Sonntag« wird seit je am Samstagabend gesendet. Der Termin ist symbolisch. So wie die christlichen Religionen aus dem Judentum entsprangen, ging der Sonntag aus dem Schabbat hervor. Jesus, der Religionsgründer wider Willen, empfand sich Zeit seines kurzen Lebens als Jude. Er heiligte den Schabbat, den siebenten Tag, an dem entsprechend des Gebotes der Hausherr samt seiner Familie, seinem Gesinde, ja sogar seinem Vieh ruhen sollte. Die junge christliche Religion fand einen immanent-triftigen Grund, ihren heiligen Tag vom Schabbat auf den Sonntag zu verlegen. Doch an dem genialen jüdischen Prinzip des Ruhetags mochte sie nicht rütteln.
Das Judentum genügt sich selbst als auserwähltes Volk. Das hat viele Anhänger der Tochterreligionen zur Eifersucht und zu mörderischem Hass getrieben. Der Verzicht auf Mission hat das Judentum klein, fein, aber zumeist physisch ohnmächtig erhalten. Wer sich seiner Wahrheit gewiss ist, sieht keinen Grund, dafür zu werben. Bei uns läuten am Schabbat keine Glocken, und kein Rabbiner käme auf den Gedanken, im Stil des Muezzins auf das Dach der Synagoge zu steigen, um die Gläubigen zum Gebet zu kommandieren.
Das jüdische Werbeverbot soll keineswegs aufgehoben werden. Doch ich meine, wir sollten die Möglichkeit zur Information ebenso nutzen wie alle anderen Glaubensgemeinschaften. Das deutsche Grundgesetz garantiert die Gleichheit der Bürger und ihres Glaubens. Das Christentum ist, anders als manche Christen und sogar Juden meinen, keineswegs deutsche Staatsreligion. Warum sollten wir Juden uns daher schämen, die Massenmedien zu nutzen, um uns über unseren Glauben, unse- re Gesetze, unsere Ethik und den Standpunkt des Judentums zu gesellschaftspolitischen Fragen zu äußern? Die Zuschauer sollen, wie in der Demokratie üblich, unter mehreren Alternativen wählen können.
Wie stellt sich das Judentum zur Geburtenkontrolle, zur Gewalt, zur staatlich geförderten Kinderbetreuung, zur Todesstrafe, zur Solidarität mit dem jüdischen Staat und zu dessen konkreter Politik? Dabei wird schnell deutlich werden, dass es den jüdischen Standpunkt ebenso wenig gibt wie den christlichen oder den islamischen. Doch es gibt Grundsätze, etwa das Prinzip der Nächstenliebe, das eben keine christliche, sondern eine jüdische Erfindung ist.
Ein Wort zum Schabbat wäre auch das richtige Forum, um das antisemitische Schauermärchen von der jüdischen Rachereligion auszuräumen. Endlich kann klargestellt werden, dass »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut« kein Aufruf zur Revanche, sondern im Gegenteil das Gebot zur materiellen Entschädigung von geschehenem Unrecht ist. Es ist unsinnig, Antijudaismus zu beklagen, ohne dessen Vorurteile öffentlichkeitswirksam zu widerlegen.
Zumindest ebenso wichtig wie die Aufklärung der Gesamtbevölkerung ist mir die Wahrnehmung meiner staatsbürgerlichen Rechte. Ich zahle meine Steuern und meine Gebühren, also möchte ich mich auch persönlich über den jüdischen Glauben und das jüdische Wissen aufklären lassen. Nicht nur aus gelehrten Büchern, sondern gelegentlich auch am Bildschirm durch eine(n) jüdische Gelehrte(n) oder eine(n) Rabbiner(in). Ich hoffe, dabei Wissen und Trost zu erfahren, ebenso wie meine Nachbarn – einerlei, ob sie Christen, Moslems oder Agnostiker sind.
In summa: Das Judentum hat keinen triftigen Grund, sich zu verstecken. Es darf und soll seine Prinzipien und Standpunkte ebenso wie in Israel, den Vereinigten Staaten und in aller Welt dem Publikum kundtun.
Streit statt Predigt
von Hannes Stein
An das »Wort zum Sonntag« kann ich mich noch gut erinnern. Das »Wort zum Sonntag« wurde von freundlichen, aber nicht mehr ganz jungen Nonnen oder von Pastoren mit Brille vom Blatt gelesen, die alle miteinander sehr authentisch wirkten, was in weniger höflichem Deutsch bedeutet, dass sie keinen Sprechunterricht gehabt hatten und an den falschen Stellen atmeten; aber das war nicht der Grund, warum das »Wort zum Sonntag« nervte. Der Grund, warum diese theologische Übung mir als kleiner Junge missfiel, war folgender: Nach dem »Wort zum Sonntag« pflegten im Fernsehen Filme zu laufen, in denen Godzilla Tokio dem Erdboden gleichmachte oder böse Außerirdische mit geheimnisvollen Todesstrahlen die Menschheit bedrohten oder freundliche Roboter die Geschicke der Welt in ihre künstlichen Hände nahmen – und all das schien mir entschieden wichtiger als Betrachtungen darüber, ob der Mensch edel, hilfreich und gut sein soll. Bitteschön, er soll, gar keine Frage! Er soll aber vor allem nicht so viel quatschen und damit immer weiter hinauszögern, dass der heiß herbeigesehnte Mitternachts-Science-Fiction-Film anfängt.
Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass sich zu den ältlichen Nonnen und bebrillten Pastoren und – wer weiß! – Imamen bald vielleicht noch bärtige Rabbiner gesellen, zwischendurch auch die eine oder andere Rabbinerin, wir sind ja progressiv, dann muss ich grinsen. Ich schaue mir zwar nicht mehr so viele Science-Fiction-Filme an wie früher, aber meine instinktive Sympathie gilt immer noch dem Kind in mir, das bei solchen Fernsehansprachen gähnt und unruhig auf seinem Sessel hin und her ruckelt. Ein »Wort zum Schabbat«? Bitte nicht. Lieber schaue ich mir zur Strafe die gesamte »Star Wars«-Saga auf DVD mit hebräischen Untertiteln an.
Das ist kein theologisches Argument, ich weiß. Deshalb sei es hier kurz nachgeliefert. Das Judentum lässt sich bekanntlich auf eine Feststellung und eine Frage reduzieren. Die Feststellung: »Gott hat am Sinai mit uns gesprochen.« Die Frage: »Aber was hat er eigentlich gesagt?« Darum dreht sich seit ein paar tausend Jahren alles, darüber gibt es tausende Talmudkommentare und Kommentare zu den Kommentaren und unzählige Witze. All diese Auslegungen und Interpretationen sind nun auf dialogischem Weg erarbeitet worden. Der Talmud ist ja nichts weiter als ein Gesprächsprotokoll, das eine Debatte von Gelehrten über Generationen festhält.
Wenn sich in Synagogen Rabbiner hinstellen und nach der Lesung aus der Tora eine Predigt halten, dann hat sich das halt in Anlehnung an die Gebräuche der Mehrheitsgesellschaft so ergeben. Aber im Grunde empfinde ich es als Notbehelf, als Schrumpfform. Viel schöner fand ich, was ich in einer »modern orthodoxen« Synagoge in Washington, D.C. erleben durfte: Da teilten wir uns in Gruppen auf und interpretierten unter Anleitung Auszüge aus dem Wochenabschnitt – im Gespräch, im Dialog, manchmal im Streit. Schließlich kommt das Judentum ohne Papst aus, der »ex cathedra« ewig-unumstößliche Dogmen verkündet. Und noch weniger braucht das Judentum protestantische Prediger, die sich höchstselbst für die Verkörperung von Gottes Wort halten. Die »Tora an sich« gibt es nicht, oder genauer: Sie muss zur »Tora für uns« werden; und das wird sie durch die lebendige Diskussion, nicht durch eine beim Christentum abgeschaute Kanzelrede.
Ein »Wort zum Schabbat« käme mir darum wie die Schrumpfform einer Schrumpfform vor. Gut, da erschiene dann also ein Herr oder eine Dame mit abgeschlossener Rabbinerprüfung auf dem Bildschirm, aber was könnte dieser Mensch in fünf Minuten Sendezeit sagen, das in der Substanz über die Goldene Regel des Rabbi Hillel hinausginge? Und die, Pardon, kenne ich schon. Gewiss wäre wünschenswert, dass halachisch bewanderte Juden sich auch in Deutschland zu Themen wie der Stammzellenforschung, aktiver und passiver Sterbehilfe, den Menschenrechten im Krieg gegen den Terror etc. pp. zu Wort meldeten – aber just solche Themen würden bei einem allgemein-menschlich-salbungsvollen »Wort zum Schabbat« garantiert unter den Schneidetisch fallen.
Dass die Christen und womöglich bald auch die Muslime ein solches Sendeformat zur Verfügung haben, zählt als Argument dafür, dass die Juden ebenfalls eins brauchen, nicht die Bohne. Schließlich haben die Christen Kirchenglocken, und bei den Muslimen ruft der Muezzin vom Minarett zum Gebet. Deswegen ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, künftig müsste auch von den Dächern der Synagogen lautstark mit Gebimmel zum Gebet gerufen werden.