von Richard Herzinger
Es ist ein Rätsel. Wie kann man aus dem Bericht der US-Geheimdienste, der vorige Woche in Washington veröffentlicht wurde, eine Entwarnung in Bezug auf das iranische Atomwaffenprogramm herauslesen? Zwar konstatiert das National In- telligence Estimate (NIE), wahrscheinlich habe der Iran sein Atomwaffenprogramm im Herbst 2003 ausgesetzt. Zugleich betont der Bericht aber auch, die Teheraner Führung halte sich die Option offen, es wieder aufzunehmen. Denn sie entwickelt weiterhin Technologie, die zum Bombenbau verwendet werden kann, etwa die Fähigkeit zur Produktion hochangereicher- ten Urans. Letzten Endes offenbart NIE, dass die US-Geheimdienste nichts Genaues wissen: Ob der Iran auch weiterhin eine nukleare Bewaffnung anstrebe, vermöchten sie nicht definitiv zu sagen. Sie glauben nur feststellen zu können, dass Teheran diese Absicht weniger zielstrebig ver- folge als bislang vermutet.
Im Kern läuft der Unterschied zwischen der aktuellen und früheren Einschätzung der iranischen Aktivitäten darauf hinaus, dass mehr Zeit bleibt als vielfach angenommen, um das Regime doch noch von seinen Nuklearambitionen abzubringen. Die Fähigkeit zum Atomwaffenbau könne der Iran nicht schon, wie in einem früheren Geheimdienstbericht angenommen, bis Ende 2009 erreichen, sondern erst zwischen 2010 und 2015. Innenpolitisch brisant ist der Bericht, weil er ein deutliches Signal gegen jene Kräfte in Washington setzt, die wegen des vermeintlichen Zeitdrucks auf eine Bombardierung der iranischen Atomanlagen drängen. Doch die gegenwärtige Linie der US-Regierung und der EU, Teheran durch diplomatischen Druck zur Offenlegung seines Atomprogramms zu bringen, wird durch NIE massiv bestätigt. War es nach Aussage der Geheimdienstler doch internationaler Druck, der die Iraner zur Aussetzung ihres Atomwaffenprogramms veranlasst hat. Die Teheraner Führung sei durch äußere Einwirkung stärker zu beeinflussen als bisher angenommen. Es wäre deshalb absurd, wenn ausgerechnet dieser Bericht dazu führen sollte, dass der Druck auf Teheran gelockert wird. Die UN-Sanktionen gegen den Iran sind verhängt worden, weil das Mullah-Regime die Aufklärung über das ganze Ausmaß seines Atom- programms verweigert. Dieser Sachverhalt bleibt von den neuen Geheimdienst- erkenntnissen unberührt. Mehr noch: NIE bestätigt ausdrücklich, dass der Iran tatsächlich ein geheimes Atomwaffenprogramm unterhalten hat – was er gegenüber der internationalen Gemeinschaft ve- hement leugnet (vgl. S. 2).
Der Iran könnte die Pressionen leicht von sich nehmen, wenn er (wie vom UN-Sicherheitsrat gefordert) die Urananreicherung aussetzen und alle offenen Fragen der Internationalen Atomenergiebehörde beantworten würde. Für den Fall einer Einigung sind Teheran vom Westen bereits umfangreiche wirtschaftliche und technologi- sche Hilfen bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie angeboten worden. Doch statt an diese Lage der Dinge zu erinnern, mokieren sich weite Teile der deutschen Öffentlichkeit lieber über das vermeintliche Fiasko der Iranpolitik Präsident Bushs und bescheinigen ihm einmal mehr Unglaubwürdigkeit. Mit der Wahrheit nehmen sie es dabei selbst nicht allzu genau. So unterstellt Ex-Außenminister Joschka Fischer, Bush habe durch sein kriegerisches »Säbelrasseln« dem Mullah-Regime in die Hände gespielt. In Wahrheit setzt Washington seit geraumer Zeit erklärtermaßen auf eine diplomatische Lösung des Atomkonflikts. Zudem hat sich die US-Regierung im Sommer 2006 bereit erklärt, an direkten Gesprächen mit Teheran teilzunehmen, sobald der Iran den Auflagen des UN-Sicherheitsrats nachkommt. Von dieser Bereitschaftserklärung der USA hatten sich die Europäer den großen Durchbruch zu Verhandlungen erhofft, glaubten sie doch, solche direkten Gespräche seien das, was sich die Iraner am sehnlichsten wünschen. Doch stattdessen tönt Präsident Ahmadinedschad nun, er wolle gar nicht mit den Amerikanern reden und spricht dem UN-Sicherheitsrat in provokatorischer Weise jede Legitimität ab.
Egal, ob der Iran seine Atomrüstung nun mehr oder weniger intensiv betreibt: Die Aussicht, dass ein Regime, das durch Unterstützung islamistischer Milizen die gesamte Region destabilisiert, das Israel mit Vernichtung droht und jeden israelisch-palästi- nensischen Kompromissfrieden torpediert, das den Holocaust leugnet und aggressive antisemitische Propaganda verbreitet, über unkontrollierte nukleare Kapazitäten verfügen könnte, ist und bleibt Anlass zu tiefster Beunruhigung. Sollten die Fähigkeiten dieses Regimes, seine Visionen zu verwirklichen, tatsächlich überschätzt worden sein – umso besser. Die Anstrengungen, den islamistischen Apokalyptikern in Teheran die Grenzen aufzuzeigen, dürfen deshalb aber erst recht nicht nachlassen.
Der Autor ist Redakteur der »Welt am Sonntag«.