von Richard Herzinger
Hat sich Israels Ministerpräsident Ehud Olmert unmittelbar vor seinem Besuch in Deutschland vorige Woche wirklich nur verplappert? Oder war es taktisches Kalkül? Wie dem auch sei, jedenfalls gab er in einem Nebensatz indirekt das offenste Geheimnis der Welt preis: Israel hat die Atombombe.
Westliche Geheimdienste gehen davon aus, daß der jüdische Staat über mehr als 400 nukleare Sprengköpfe verfügt. Vor allem hat Israel Atomraketen, die auf U-Booten stationiert sind. Damit ist seine Zweitschlagskapazität gesichert. Das heißt: Wer Israel atomar angreift, muß definitiv mit der eigenen Vernichtung rechnen. Die U-Boote, die Israel unangreifbar machen, kommen übrigens aus Deutschland.
Obwohl diese Tatsachen Freund und Feind bekannt sind, gehört es zur israelischen Staatsräson, sie niemals anzusprechen – nicht einmal, um sie zu dementieren. Kein Wunder, daß die Wellen der Em- pörung in Israel hochschlugen und die Opposition postwendend Olmerts Rücktritt forderte. Indem es sich in dieser Frage einfach dumm stellt, entzieht sich Jerusalem dem Atomwaffensperrvertrag und den Kontrollen der Internationalen Atomenergiebehörde. Freilich funktioniert das Versteckspiel nur, weil auch die USA und ihre Verbündeten das Thema einfach aussparen und Israels nukleare Option damit stillschweigend gutheißen.
Mit diesem Arrangement sind bisher eigentlich alle gut gefahren. Mag es auch paradox klingen: Israels atomare Ausnahmestellung war bis dato eine Hauptstütze des Gleichgewichts im Nahen und Mittleren Osten. Das moralische Sonderrecht auf Atomwaffen leitet sich für den jüdischen Staat aus der Tatsache ab, daß ihm von fast allen Staaten der Region das Existenzrecht bestritten wird.
Mit der Unangreifbarkeit Israels konnten bisher aber auch seine Feinde ganz gut leben. Arabische Diktaturen hatten so vor ihrer Öffentlichkeit stets einen einleuchtenden Grund, gegen das verhaßte »zionistische Gebilde« nicht aufs militärische Ganze zu gehen. Der Palästinakonflikt ließ sich damit dauerhaft am Köcheln halten und konnte den arabischen Regimes als ideologische Legitimation ihrer Herrschaft dienen. In diesem Rahmen drehten sich die Machtspiele in der Region immer schön im Kreis.
Doch in jüngster Zeit ist diese gesamte eingefahrene Struktur nachhaltig erschüttert worden. Durch den Irakkrieg haben die USA eine Lücke in die Phalanx arabischer Despotien gerissen, in der sich jetzt die explosiven inneren Widersprüche der arabischen Welt blutig entladen. Auf der anderen Seite hat Iran das große regionale Stillhalteabkommen aufgekündigt. Es strebt mit Siebenmeilenstiefeln selbst nach der Atombombe und versetzt damit nicht nur Israel, sondern auch die arabischen Regionalmächte in Alarmzustand. Und die fürchten sich vor einer Nuklearmacht Iran noch vielmehr als der Westen. Teheran ist der Hauptprofiteur der chaotischen Lage im Irak, wo es sich seelenruhig als Ordnungsmacht profiliert. Seine Vormachtambitionen in der Region treibt es mittels seiner fundamentalistischen Erweckungsbotschaft an die Schiiten voran und wirft damit den sunnitischen arabischen Führungsmächten Saudi-Arabien und Ägypten den Fehdehandschuh hin. Statt Israel direkt anzugreifen, will Teheran es mittels seiner Hilfstruppen Hisbollah und Hamas auf längere Sicht zermürben und dabei Libanon und die Palästinen- sergebiete unter seine Kontrolle bringen.
So bildet sich im Nahen und Mittleren Osten eine völlig neue Frontlinie heraus: Israel und arabische Führungsmächte wie Saudi-Arabien sehen sich plötzlich im gemeinsamen Interesse vereint, Iran die Flügel zu stutzen. Vor diesem Hintergrund könnte es doch kein dummer Versprecher, sondern eine taktische Finte Olmerts gewesen sein, an Israels nukleare Kapazität zu erinnern. Die darin enthaltene Botschaft an den Westen lautet: Hindert Iran um jeden Preis am Bau der Bombe, sonst beginnt eine Dynamik hin zu einem großen Krieg in der Region mit möglicherweise ultimativem Ausgang. In Kairo und Riad, das wiederholte Drohungen ausgestoßen hat, die Sunniten im Irak aufzurüsten – sollte sich Amerika aus dem Land zurückziehen und es iranischem Einfluß überlassen –, dürfte man Olmerts Tabubruch heimlich applaudiert haben.
Richard Herzinger ist Redakteur der »Welt am Sonntag«. Seine Online-Kolumne »Außenwelt« finden Sie unter:
www.welt.de/data/2006/11/17/1114201.html