Daniel Hope

Bogen des Lebens

von Kirsten Wenzel

Der Gast ist kaum noch zu sehen. Hat ganz unten auf dem PVC-Boden Platz genommen, im Schneidersitz. Die Kinder aus der 3. Klasse der Nelson-Mandela-Schule in Berlin-Wilmersdorf finden das recht interessant. Eben noch sind sie zu gefiedelten Westernklängen wie kleine Berserker durch die Klasse getobt, jetzt entführt Daniel Hope sie ganz weit weg, nach Indien, wo man eben meditierend musiziert und der ruhige Atem alles ist. Es sieht lustig aus, wie sich der große Schlaks in Jeans und Turnschuhen um einen halbwegs passablen Schneidersitz bemüht. Die Kinder, quietschvergnügt, hält es vor Schaulust kaum noch auf ihren Stühlen.
»Rhapsody in School« heißt das Projekt, das berühmte Künstler als ehrenamtliche Lehrer in die Klassenzimmer einlädt, um schon kleine Menschen an die Freuden der klassischen Musik heranzuführen. Einen geeigneteren Kandidaten als Daniel Hope, den »global boy next door«, wie ihn der New Yorker Observer genannt hat, kann man sich für so ein Experiment nicht vorstellen. Mit strahlendem Lächeln und zerzaustem rotem Haar ist der 32jährige Brite sofort der Typ großer Bruder, den alle Kinder lieben. »Hi Daniel«, rufen sie in exzellentem Englisch, denn die Nelson-Mandela-Schule ist eine internationale, zweispra- chige Schule. In der Klasse sind fast alle Hautfarben vertreten. »Geht das nicht das etwas lauter?«, fragt der Gast freundlich, bevor er seine Geige auspackt, und die Klasse legt noch einmal nach: »Hi Daniel!«, »Noch lauter!«, »Hi Daniel!!« So geht das weiter, bis das Gebrüll so richtig schön in den Ohren dröhnt. Dann lächelt Hope befriedigt, als wolle er sagen: Ist Lärm nicht einfach beautyful! Sich Gehör verschaffen, Töne bis ins Mark spüren, lebendig sein. Das macht doch wirklich Spaß! Die Geige, die er an diesem Tag mit in die Wilmersdorfer Schule gebracht hat, ist 250 Jahre alt und ohne Zweifel unermeßlich kostbar. Es muß ihm schon sehr gut gefallen haben mit den Kindern. Ganz am Schluß läßt er sie sogar darauf spielen.
Zwei Tage zuvor, in der Berliner Philharmonie, war der Star-Solist noch als Interpret des Violin-Konzertes von Benjamin Britten vom großen Publikum gefeiert worden. Schwere Kost, Brittens Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg, doch das Publikum war begeistert. Preise und Auszeichnungen hat dieser Künstler in den letzten Jahren gesammelt wie andere gebrauchte U-Bahn-Fahrscheine. Dreimal in Folge den »Echo Klassik«, zweimal »Nachwuchsmusiker des Jahres«, »Instrumentalist des Jahres«, die gesamte internationale Musikkritik sagt ihm eine glänzende Zukunft voraus.
Überhaupt nicht schlaksig, sondern straffgespannt wie ein Bogen wirkte sein hochgewachsener Körper während des Konzertes, einen Fuß nach vorn gestellt, so, als wolle er zum Sprung ansetzen, den Kopf fast in den Nacken, der Blick dabei in die Ferne gerichtet oder die Augen geschlossen. Nicht, um sich etwa von der Realität abzuwenden, versichert er, sondern, um mit der Musik die Wirklichkeit tiefer zu begreifen. »Denn Musik«, sagt Hope, »ist Kommunikation«. Und Kommunikation, Offenheit, Ausdruck, Aufmerksamkeit und Austausch sind für ihn, den Grenzgänger und Wanderer zwischen den Welten, der sich im Reich der Worte fast ebenso wohlfühlt wie in dem der Töne, das Wichtigste überhaupt.
Seine »klingende Kinderstube« war das Londoner Haus des Jahrhundertgeigers Yehudi Menuhin, als dessen Sekretärin und Managerin Hopes Mutter 30 Jahre lang arbeitete. Ihren kleinen Sohn nahm sie jeden Tag mit. So wuchs Daniel Hope mit den Enkelkindern Menuhins als Spielgefährten auf. Er sah Musiker im Haus ein- und ausgehen, staunte über die grellbunten Gewänder des Sitar-Großmeisters Ravi Shankar, der im Wohnzimmer auf dem Teppich Platz nahm, so wie er heute auf dem Boden der Schulklasse – und verliebte sich mit dreieinhalb Jahren in die Violine.
Wenn Hope über seine, mit 32 Jahren eigentlich noch nicht besonders lange, Lebensgeschichte spricht, kommt er selbst ins Staunen. »Es war ein riesiger Zufall«, sagt er. »Hätte meine Mutter nicht noch einen letzten Versuch gemacht, in London einen Job zu finden, wären meine Eltern wieder zurückgegangen nach Südafrika. Und ich hätte womöglich nie die Musik entdeckt.« Ohne Geld und Wohnung stand die junge Familie Hope Mitte der siebziger Jahre auf dem teuren Londoner Pflaster, aus Südafrika ausgereist, weil Daniels Vater, Schriftsteller und Apartheidsgegner, dort nicht publizieren durfte. Daniel Hope war damals ein halbes Jahr alt. Und plötzlich, nach einem einzigen Vorstellungstermin der tüchtigen Mutter bei Menuhin, waren die Hopes alle Sorgen wieder los: Der Meister organisierte sogar ein Haus in dem feinen Viertel Highgate und mietete im Sommer ein Extra-Chalet für die Hopes in Gstaad, damit er seine »rechte Hand« wirklich immer in seiner Nähe wußte.
Hope nennt Menuhin heute liebevoll seinen »musikalischen Großvater«. Doch daß vor seinen Augen ein großen Geiger heranwuchs, ignorierte der Meister mehr als ein Jahrzehnt lang und merkte erst auf, nachdem Hope Meisterschüler bei dem russischen Violinisten Zakhar Bron geworden war. Eines Tages bestellte Menuhin den 16jährigen Hope dann nach Gstaad und ließ ihn sich, völlig fassungslos über das eigene Desinteresse, stundenlang durch die Geigenliteratur spielen. Danach traten sie in mehr als 60 Konzerten in ganz Europa zusammen auf, das letzte Mal drei Tage vor Menuhins Tod am 12. März 1999.
Als erster Geiger des renommierten Beaux Arts Trio hat Hope zwar erneut hochkarätigen Anschluß gefunden, doch längst ist er als Solist erfolgreich auf Welttournee. Geschickt hat er den Versuchungen widerstanden, mit den »kugelsicheren Klassikern« schnelle Erfolge einzustreichen. Erst dieses Jahr, schon sehr weit oben auf dem Weg zum Erfolg, wagt er sich auch an eine Bach-Einspielung.
Seine bisherigen Arbeiten verfolgten nicht selten ein thematisches Konzept. Unter dem Titel »east meets west« setzt er Ravi Shankar und Ravel, de Falla und Bartók in fruchtbare Beziehung, in »Forbidden music« widmet er sich internierten Komponisten wie Schulhoff, Krasa und Klein. Interviews mit überlebenden Komponisten aus Theresienstadt hat Hope geführt. Von den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kommt er als Thema seit Jahren nicht mehr los. »Der große Aufbruch und dann der große Crash, das fasziniert mich, auch in der Musik, plötzlich war da Strawinsky, le sacre du printemps.« Was für ein Bruch. Und wieder liegt der Grund für sein besonderes Interesse in seiner Biographie und Familiengeschichte begründet Die Spuren führen nach Deutschland, nach Berlin.
In Südafrika kam Daniels Mutter zur Welt. Doch sie war die Tochter einer Frau Valentin aus Berlin-Dahlem und eines Herrn Klein aus Berlin-Schmargendorf. Von seiner Dahlemer Großmutter hat Hope, wie er stolz anmerkt, den roten Haarschopf geerbt, und nicht etwa von den irischen Vorfahren seines Vaters. Den Eltern seiner Großmutter, im späten 19. Jahrhundert zum Christentum konvertierte Juden, gehörte die »Valentin Röhren- und Eisenfabrik« in der Kreuzberger Großbeerenstraße und eine große Villa in Dahlem. Hier wuchs die Großmutter in den zwanziger Jahren in behüteten Verhältnissen auf, bis die Firma ihres Vater von den Nazis beschlagnahmt wurde und die Familie gezwungen war, das Haus in Dahlem zu verkaufen und Deutschland zu verlassen. Ein Besuch bei der Adresse Im Dol 2-6 gehört für Daniel Hope seit Jahren zu jedem Berlin-Aufenthalt, auch wenn dort heute außer einem kleinen Familienwappen der Valentins wenig zu entdecken ist. Das Haus hat nach der Ausreise der Valentins zahlreiche »Umnutzungen« erlebt und an historischen Flair verloren; es war unter anderem Heimat der jüdischen Kaliski-Schule und später Nachrichtenzentrale des Auswärtigen Amtes. Heute sind dort die Labors des Deutschen Archäologischen Instituts untergebracht.
Gefühle? Die unterschiedlichsten, sagt Hope. Natürlich ist Trauer dabei. Sein Urgroßvater aus Schmargendorf, ebenfalls konvertierter Jude, ein Weltkriegsveteran und »deutschnationaler Patriot«, beging Selbstmord, weil er die Schmach, aus seinem Volk plötzlich verstoßen zu sein, nicht ertrug. Auch Urgroßvater Valentin überlebte die Strapazen der Ausreise nicht und starb auf der Passage nach Südafrika. Doch er empfindet auch große Freude: »Über meine geliebte Großmutter, eine waschechte Berlinerin, der ich mich hier immer sehr nah fühle.« Im nächsten Jahr will Hope ein Buch über seine Familie herausbringen, unterstützt von einem Historikerteam, weil er dieses Graben in Geschichten eben über alles liebt.
Zur Zeit wohnt Hope in Amsterdam, zusammen mit seiner deutschen Frau. Beim »Forellenquintett« in Lübeck haben sie sich kennengelernt. Viele Jahre sprachen sie Englisch, bis er auf einmal Deutsch konnte, »als wäre es immer dagewesen«. Noch so eine der vielen wundersamen Begebenheiten in diesem ungewöhnlichen Leben. »Ich kenne kein Land, das sich so stark mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt«, sagt Hope, während er die Sonne auf dem Ludwig-Kirch-Platz genießt. Keine Zweifel, dieser junge Mann, geboren in Südafrika, aufgewachsen in England, mag Deutschland, wie es heute ist. »Amsterdam, das ist praktisch, aber keine Heimat. Mich zieht es hierher zurück.« Hat er »zurück« gesagt? Hat er. So als wäre ein verborgener Teil von ihm immer hier gewesen.

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