von Hans-Jochen Vogel
Im Verlaufe eines Prozesses, der nach 1945 nur langsam in Gang kam und Jahrzehnte dauerte, sind heute die Verbrechen des NS-Gewaltregimes und der Holocaust zu festen Bestandteilen des deutschen Geschichtsbewusstseins geworden. Auch die Auseinandersetzung mit den Ursachen dafür, dass so Furchtbares in unserem Lande geschehen konnte, und dass sie weit vor das Jahr 1933 zurückreichen, ist seit der historischen Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 nicht verstummt.
Aber dieser Prozess hat gerade auch im Bezug auf den Holocaust weithin einen eher abstrakten und generalisierenden Charakter. Viele überfordert es, sich vorzustellen oder gar nachzuerleben, was die Ermordung von sechs Millionen Menschen an individuellem Leid und Schmerz bedeutet und wie sich ihr schreckliches Schicksal im Einzelnen abgespielt hat. Dieses emotionalen Elements bedarf es indessen, damit die Konsequenz des »Nie wieder! Nicht noch einmal!« auch in den nachfolgenden Generationen Wurzeln schlägt.
Es ist daher zu begrüßen, dass in den vergangenen Jahren eine zunehmende Zahl von Veröffentlichungen das seinerzeitige Geschehen am Beispiel einzelner Städte und konkreter jüdischer Gemeinschaften und Einzelpersönlichkeiten schildert. Die vorliegende Publikation Orte der Erinnerung – Wege der Versöhnung des ehemaligen Freiburger Oberbürgermeisters Rolf Böhme tut das anschaulich ohne jede Beschönigung. Auch lässt sie immer wieder die persönliche Betroffenheit des Autors erkennen, der einen Schotterstein aufbewahrt, den er bei einem Besuch in Auschwitz-Birkenau mitgebracht hat.
Das gilt besonders für die Abschnitte des Buches, in denen Böhme beschreibt, wie die Freiburger Juden, die seit dem 19. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil der Stadtgesellschaft geworden waren, nach dem 30. Januar 1933 immer stärker ausgegrenzt und verfolgt wurden. Nur ein Teil konnte fliehen, die meisten starben in Gurs, wohin sie schon im Oktober 1940 deportiert wurden. Dabei nennt er Namen und schildert konkrete Einzelschicksale. Und er verschweigt auch nicht, dass sich das alles vor den Augen des größeren Teils der Bevölkerung abspielte und nur Wenige Widerspruch erhoben.
Eindrucksvoll sind die Darstellungen dessen, was seine Stadt und er seit den 80er-Jahren unternommen haben, um die Verbindung mit den in der ganzen Welt verstreuten Überlebenden wieder herzustellen und der jüdischen Gemeinschaft, die sich neu bildete, wieder einen festen Platz in Freiburg zu verschaffen.
Bewegend die Gespräche mit denen, die den regelmäßigen Einladungen der Stadt folgten oder die der Autor im Ausland traf. Und ermutigend, wie selbstverständlich die neue Synagoge ihren Platz neben dem Freiburger Münster gefunden hat. Nicht minder ermutigend die vielfältigen Aktivitäten, die die Erinnerung an das Geschehen wachhalten und dabei auch von der Schuld sprechen, die nicht vergessen werde darf.
Zu Recht weist Böhme in diesem Zusammenhang die Walser’sche Redewendung von der »Auschwitz-Keule« zurück, die da geschwungen werde. Es verwundert auf diesem Hintergrund nicht, dass der Autor davon berichten kann, wie stark und massenhaft gerade in Freiburg gegen antisemitische und ausländerfeindliche Parolen und andere Provokationen der Rechtsextremisten protestiert wird. Ebenso lässt dieser Hintergrund es zu, auch darzutun, wie sehr der fanatische Wahn des NS-Gewaltregimes am Ende auch auf das eigene Volk zurückschlug. Die Zerstörung Freiburgs durch den Luftangriff vom November 1944 ist dafür ein Beispiel.
Wer das Buch liest, wird noch stärker davon überzeugt sein, dass die Achtung der Menschenwürde, die Orientierung an bestimmten Grundwerten, die Toleranz, das persönliche Engagement jedes einzelnen und die Verteidigung der Demokratie unverzichtbar sind, damit sich vergleichbare Katastrophen nicht wiederholen. Gerade deshalb und weil es zur Nachahmung anregen kann, ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen.
Der Autor war von 1974 bis 1981 Bundesjustizminister, 1987 bis 1991 Bundesvorsitzender der SPD und ist Mitbegründer des 1993 gegründeten Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«.