Manchmal mutet es fast übernatürlich entspannt an, wie die Israelis mit der Schoa und ihrem Verhältnis zur Bundesrepublik umgehen. Diskussionen über Kontakte zwischen Israel und Nachkriegsdeutschland, die hohe Wellen schlugen und fast einen Volksaufstand entfachten, schienen einer schwierigen, aber be-
wältigten Vergangenheit anzugehören. Die engen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland waren Beweis, dass Aussöhnung zwischen Völkern möglich ist. Mosche Sinai, Bürgermeister der israelischen Kleinstadt Rosch Haayin, dachte deswegen, er könne ebenfalls eine Partnerschaft mit einer deutschen Stadt eingehen, genau wie andere israelische Kommunen. Doch Sinais Partner jenseits des Mittelmeers war nicht irgendeine Stadt, sondern Dachau, Standort des ersten Konzentrationslagers der Nazis.
Das KZ-Dachau war Prototyp, Versuchsarena und Ausbildungsstätte für die SS-Wachen der Vernichtungslager, in denen in Osteuropa sechs Millionen Juden ermordet wurden. Mehr als ein Drittel der rund 200.000 Gefangenen Dachaus waren Juden, rund 43.000 Insassen wurden durch Hunger, Krankheit und Mord getötet. In den Augen vieler Israelis ist Dachau deswegen nicht der Name einer normalen Kleinstadt im Großraum München. »Dachau ist ein Symbol«, sagte ein Überlebender des KZs, der namentlich nicht genannt werden möchte, der Jüdischen Allgemeine.
Jahrelang war die deutsche Stadt deswegen vergeblich auf der Suche nach einem israelischen Partner, bis Sinai von den Schwierigkeiten hörte. Sinai, Sohn von Schoa-Überlebenden, der nach seinem von den Nazis ermordeten Onkel benannt wurde, wagte den Kontakt und fuhr nach Bayern. Der Besuch überzeugte ihn von der Aufrichtigkeit der Deutschen: »Wir sind drei Stunden durch die Gedenkstätte gegangen, und der Oberbürgermeister hatte Tränen in den Augen.« Sinai beschloss nach seiner Rückkehr, den Austausch von Jugendlichen voranzutreiben.
Reaktionen Als die israelische Presse die Kontakte bekannt machte und gar behauptete, eine offizielle Städtepartnerschaft sei abgeschlossen worden, gingen Überlebende des KZ Dachau auf die Barrikaden und nahmen Sinai unter Beschuss: »Ich kann nicht verstehen, wie man so etwas tun kann«, sagte Mosche Sanbar (84), ehemaliger Vorsitzender der Bank of Israel. Er habe nichts gegen die junge Generation in Deutschland. Trotzdem müsse Sinai seine »beschämende Entscheidung« rückgängig machen. Andere Schoa-Überlebende stimmten ein. Der Kolumnist Noach Klieger bezeichnete den Schulterschluss als »schreckliche und empörende Dummheit«, der »jegliches Einfühlungsvermögen« fehle. Ihnen ging diese Normalisierung einen Schritt zu weit. Viele Zeitungen kritisierten Sinais Pläne, manche vermuteten gar, er hoffe auf finanzielle Vorteile, wenn er sich »eine blondgelockte, blauäugige Partnerstadt« aussuche.
Sinai ist von der Kritik überrascht und weist sie vehement zurück. Gleichzeitig will er die Wogen glätten. Immer wieder betont er jetzt, dass es sich lediglich um den Austausch von Jugendlichen handle. Eine Städtepartnerschaft schließt er vorerst kategorisch aus.
Wenn auch Sinais Kritiker die Bühne beherrschten, erfreut sich der zum zweiten Mal ins Amt gewählte Bürgermeister Rosch Haayins der Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung befürworten die meisten Israelis engere Beziehungen mit Deutschland.
Selbst Überlebende des KZ Dachau brachten hinter vorgehaltener Hand Verständnis für Sinais Haltung zum Ausdruck: »Die Jugendlichen dort sind doch nicht schuld daran, in Dachau geboren zu sein. Diese Stadt hat sich mehr als jede andere mit ihrer schweren Geschichte auseinandergesetzt«, so ein Überlebender im Gespräch mit unserer Zeitung. Trotzdem hätte er es vorgezogen, wenn Sinai noch ein paar Jahre gewartet hätte: »Dann ist keiner mehr von uns da, und es hätte niemanden mehr gestört.«
Pläne So lange wollen Rosch Haayin und Dachau aber nicht warten. Ende Oktober wird Dachaus Oberbürgermeister Peter Bürgel Israel besuchen, um die Details der Kooperation zu besprechen. Auch Sinai ist trotz aller Kritik entschlossen, den Austausch weiter voranzutreiben: »Wir brauchen diesen Dialog, um eine bessere Zukunft für unsere Kinder zu sichern.«