von
Rabbiner Julian Chaim Soussan
Schemot bedeutet Namen. Das zweite Buch der Tora handelt von der Identität des Judentums. Exil, Befreiung, Erhalt der Tora und Errichtung der Stiftshütte sind die Etappen der jüdischen Selbstverwirklichung und damit elementare Bestandteile unserer Identität. Es verwundert daher nicht, dass schon im ersten Wochenabschnitt eine der wesentlichen Fragen der Menschheit anklingt: Wie steht es mit der Gerechtigkeit? Mosche Rabbejnu nimmt es damit sehr genau: Er schreitet ein, als ein ägyptischer Sklaventreiber einen Landsmann schlägt, als zwei Söhne Israels in Streit geraten und als Hirten sich Jithros Töchtern gegenüber ungebührlich verhalten. Doch die eigentliche Schlüsselstelle kommt etwas später, bei Mosches erster Begegnung mit G’tt am brennenden Dornbusch: »… da verhüllte Mosche sein Angesicht, denn er
fürchtete sich,
G’tt zu schauen« (2. Buch Moses 3,6).
Im Talmud gibt es hierzu folgenden Kommentar: »Rabbi Schmuel ben Nachmani im Namen Rabbi Jonathans sagte: Als Belohnung für drei Dinge ist Mosche mit drei Dingen bedacht worden. Als Belohnung für ›und Mosche verhüllte sein Angesicht‹ ward ihm ein ›strahlendes Angesicht‹ beschieden; als Belohnung für ›er fürchtete‹ ward ihm beschieden, dass ›sie fürchteten, ihm zu nahen‹; und als Belohnung für ›zu schauen‹ ward ihm beschieden: ›er schaute das Gesicht des Herrn‹.«
Während die ersten beiden Belohnungen im Sinne von »Middah keneged Middah«, also Gleiches mit Gleichem zu vergelten, klar sind, wirft die dritte eine Frage auf:
Weil er
Angst hatte, G’tt zu schauen, wurde er damit belohnt, G’tt zu schauen!? Wenn es richtig ist, G’tt zu sehen – wovor hatte Mosche Angst? Wenn es falsch ist, warum wurde er genau damit belohnt?
Die eine Frage, auf die Mosche, der G’tt näher war als alle anderen Sterblichen, der Überlieferung nach nie eine Antwort bekam, war: Warum müssen Unschuldige leiden? Weder in den Vielgötterkulturen damals, noch im heutigen Säkularismus stellt man sich diese Frage. Die Götter streiten und interessieren sich nur am Rande für den Menschen. Oder, wenn es keinen G’tt gibt, warum sollte man Gerechtigkeit erwarten?
Aber das Judentum stellt diese Frage. Jeremia, Hiob, die Kinot, die Klagelieder des Mittelalters, und die Post-Schoa-Literatur beschäftigen sich mit ihr. Es ist Mosches Frage: Warum hat das brutale Regime der Ägypter so viel Macht? Warum werden die Israeliten unterdrückt? Warum gibt es Ungerechtigkeit in der Welt?
Schmerzen und Leid sind schlimme Dinge. Aber es gibt Situationen, in denen wir sie akzeptieren: Wenn wir wissen, dass sie am Ende eine Verbesserung mit sich bringen. Wir stimmen Operationen zu, wenn wir wissen, dass es dem Kranken danach besser gehen wird. Wir zwingen unsere Kinder, sich trotz ihres Protests einzuschränken, denn wir wissen, zu viel Mitgefühl kann sich im Nachhinein rächen. Eine politische Entscheidung mag im Fall eines Krieges manchmal sogar das Leben unschuldiger Soldaten fordern; doch das damit erreichte Ziel kann Frieden für Jahrzehnte garantieren. Jemand, der vor diesen schwierigen Entscheidungen zurückschreckt, mag ein guter Mensch sein, aber er ist kein guter Anführer. Manchmal müssen wir unsere menschlichen Gefühle unterdrücken, um das Gute zu erreichen.
Genau davor hatte Mosche Angst. Wenn er in der Lage gewesen wäre , »G’tt zu schauen«, hätte er Geschichte aus der himmlischen Perspektive sehen können und sich mit dem menschlichen Leid abfinden müssen. Er hätte gewusst, dass hier Leid notwendig wäre, um dort Gutes dort zu bewirken. Genau hiervor schreckte Mosche zu- rück. Denn er wusste, dass er sonst seine Menschlichkeit verlieren würde. Er wollte nicht verstehen, warum es notwendig sein kann, dass Menschen Böses geschieht. Genau dafür wurde er belohnt.
G’tt wird im Hebräischen mit zwei Namen (Schemot!) bezeichnet: mit »Elokim« und dem Tetragramm, das üblicherweise mit HASCHEM umschrieben und mit »der Ewige« übersetzt wird. Elokim steht für die g’ttliche Gerechtigkeit. Haschem ist Barmherzigkeit.
Weil Mosche sich weigerte, die g’ttliche Gerechtigkeit zu erkennen, wurde er damit belohnt, G’ttes Barmherzigkeit zu sehen. So war es immer im Judentum, egal wie sehr man an die g’ttliche Ordnung glaubte, man arrangierte sich nie mit Ungerechtigkeit.
Nirgends wird dies deutlicher als bei Hiob. Während er scheinbar an der Grenze der Blasphemie mit G’tt hadert, versuchen seine Freunde, ihn von G’ttes Wahrhaftigkeit zu überzeugen. Am Ende ist G’tt wütend mit den Freunden, da sie nicht so über Ihn sprachen, wie sie gesollt hätten und wie Hiob es tat! Erstaunlich: G’tt selbst empfindet den Protest Hiobs besser als die Gehorsamkeit seiner Kameraden.
Aus der Perspektive G’ttes mag es Gründe geben, die Leid und Schmerz selbst bei Unschuldigen rechtfertigen. Aber es ist nicht die Aufgabe des Menschen, dies zu verstehen und zu akzeptieren. Wir sind nicht G’tt! Aber auch keine Lämmer, die ihr Schicksal und das ihrer Nächsten hinnehmen. Wir sind Menschen, und unsere von G’tt geforderte Aufgabe ist es, bei Ungerechtigkeit aufzuschreien und zu protestieren.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.