von Rabbiner Asher Meir
In George Orwells berühmtem Roman 1984 ist jedermann unter ständiger Überwachung des Staates. Überall wird daran erinnert: »Big Brother is watching you«. Jede Bewegung, die der Mensch macht, wird durch die überall präsenten Kameras verfolgt. Orwell hat diese Novelle nicht als eine Phantasie darüber, wie das Leben einst sein würde, verfaßt. Es ist vielmehr eine Warnung, wie es kommen könnte.
Nun ist es bereits so, daß jeder Internetnutzer in jedem Moment, in dem er online ist, ausspioniert wird. Im Internet tätige Firmen sagen, daß sie lediglich sogenannte Online-Profile erstellen. Dies würde dazu beitragen, die Kunden besser bedienen zu können. Die ausspionierten Daten würden ihnen ermöglichen, ihre Websites noch besser auf die Wünsche der Kundschaft auszurichten. Damit der Kunde nur noch exakt das auf dem Bildschirm hat, wonach er sucht. Auch wenn dieses Monitoring auf den ersten Blick dem Verbraucher zugute kommt, sind Internetnutzer besorgt darüber, daß den Anbietern zu viel über sie und ihr Online-Verhalten bekannt wird. Umfragen zufolge sind 84 Prozent der Internetnutzer darüber beunruhigt, daß Unternehmen persönliche Informationen über sie selbst oder ihre Familien herausfinden. Manche Firmen wissen vielfach schon mehr über die Verbraucher, als die über sich selbst.
Untersuchungen in den USA haben ergeben, daß 75 von 100 der populärsten Websites persönliche Informationen sammeln, und das, obwohl 40 von ihnen keinerlei Datenschutzbestimmungen haben. Demgegenüber sagen zwei Drittel der Internetnutzer, daß es Unternehmen überhaupt nicht erlaubt sein sollte, derartige Informationen zu sammeln. 71 Prozent der Befragten meinen, sie sollten darüber bestimmen können, welche ihrer Daten genutzt werden dürften und welche nicht.
Das Internet steckt immer noch in den Kinderschuhen und verfügt daher nicht einmal über grundlegende Regeln des gemeinsamen Umgangs. In diesem Bereich fehlender Online-Ethik und Etikette sind zahlreiche Unternehmen tätig und sammeln alle Daten, die sie bekommen können. Wenn Medien dann über einzelne Firmen berichten, die auf dem Weg der Online-Datensammlung zu weit gegangen sind, dann verbreitet sich Panik unter den Nutzern. Sie fürchten das zunehmende Eindringen in ihre Privatsphäre.
Das bekannteste Beispiel steht im Zusammenhang mit DoubleClick, einer der größten Werbefirmen im Internet. DoubleKlick betreibt sein Geschäft unter anderem mit den auf vielen Webseiten zu sehenden Werbebannern, die Internetnutzer auf Adressen verweisen, die sie interessieren könnten. Wenn ein Nutzer auf diese Banner klickt, um zur nächsten Seite zu kommen, verfolgt DoubleKlick die Bewegung und zeichnet sie auf. Diese Praxis geriet in die Schlagzeilen, als bekannt wurde, daß DoubleKlick Millionen dieser Da- ten – verbunden mit Namen und Adressen der Internetnutzer – registriert. Dies würde Werbekunden ein beispiellos umfangreiches Wissen der Identität einer Person, mit seinem Konsumverhalten und dem direkten Zugang zu dieser Person verschaffen. Nach zahlreichen Klagen und auf Druck der Behörden hat das Unternehmen die Einrichtung dieser Datenbank erst einmal gestoppt.
Ein anderer in den USA bekanntgewordener Fall betraf den Online-Händler Toysmart.com. Als das Unternehmen mitteilte, daß es kurz vor der Schließung stehe, bot es seine Datenbank zum Kauf an, die hunderttausende vertrauliche Informationen über seine Kundschaft enthielt. Ebenfalls unter behördlichen Druck geraten, zog das Unternehmen sein Angebot zurück.
Das Internet verspricht, hunderte Millionen Menschen in einem einheitlichen weltweiten Forum zusammenzubringen. Eine bestimmte Person, das richtige Produkt oder die passende Information zu finden, dauert jetzt nur noch ein paar Minuten. Und es kostet auch nur noch ein paar Cent. Doch dieser Fortschritt geht größtenteils auf Kosten der Privatsphäre. So wie ich in die Fenster von hunderten Millionen virtueller Häuser blicken kann, um zu finden, was ich suche, so können hunderte Millionen auch in mein virtuelles Heim sehen. Es gibt eine unvorstellbare Menge von Informationen, die gesammelt und analysiert werden, und auf die direkter Zugriff besteht. Wenn ich zum Beispiel die Seite agathachristie.com besuche und mir danach ein paar Baseball-Ergebnisse anschaue, könnte in ein paar Minuten ein Werbebanner auf meinem Bildschirm auftauchen, mit dem für einen neuen Thriller geworben wird, dessen Geschichte in der Welt des Sports spielt.
Die Debatte über den Datenschutz im Internet hat sich hauptsächlich auf die Frage der Einwilligung und Zustimmung konzentriert. Es gibt eine generelle Übereinkunft, daß die Nutzer ein Recht dazu haben, die Informationen über sich selbst zu schützen. Die Frage ist, wie man das erreichen kann. Es könnten alle Informationen so lange als öffentlich gelten bis der Nutzer zum Ausdruck bringt, daß er sie schützen will. Oder es dürfen nur Informationen gesammelt werden, wenn dies vom Nutzer ausdrücklich erlaubt wurde.
Das Judentum teilt die Bedenken in Sachen Datenschutz. Unsere Tradition mißt der Diskretion und dem Schutz der Privatsphäre eine hohe Bedeutung bei. Demnach sollte jegliche Kommunikation generell als privat behandelt werden, wenn nicht ausdrücklich die Erlaubnis gegeben wurde, sie preiszugeben.
Der Chafez Chaim (Rabbi Yisrael Meir Kagan, 1838-1933) schreibt: »Wenn jemand etwas zu einem anderen sagt, ist es verboten es öffentlich zu machen, wenn nicht derjenige, der die Aussage getan hat, seine Erlaubnis dazu gegeben hat.«
Das Judentum zieht darüberhinaus nicht nur den Schutz der Privatsphäre – in diesem Fall also auch den Datenschutz – sondern auch den Anstand und die Sittsamkeit in Betracht. Datenschutz betrifft das, was ich lieber privat halten möchte. Während Anstand das betrifft, was üblicherweise ins Private gehört. Wenn ich zum Beispiel gezwungen sein würde, nur in Badehose zur Arbeit zu gehen, wäre das eine Verletzung meiner Privatsphäre. Wenn ich aber gerne in Badehose zur Arbeit gehen würde, wäre es die Verletzung von Sitte und Anstand. Nach jüdischer Tradition sollten wir wegschauen, wenn wir jemand in einer privaten Angelegenheit beobachten, auch wenn es eine noch so unschuldige Beschäftigung ist, die nicht verborgen ist. Rabbiner Schneur Zalman aus Liadi (1745-1812) schreibt: »Nachbarn sollten auch auf ihrem gemeinsamen Hof tunlichst nicht die Aktivitäten des anderen beobachten.«
Verstöße gegen die Sittsamkeit, nicht weniger als Verstöße gegen den Schutz der Privatsphäre, können sich sehr schädlich auf die Gesellschaft auswirken. Persönliche Eigenheiten zur Schau zu stellen, schafft eine Atmosphäre, in der sich jeder in die Angelegenheiten des anderen einmischen kann. Das wiederum führt zu einem Verfall der Werte. Zudem zerstört ständige Überwachung unseren Sinn für Würde und Zurückhaltung.
Zudem sollte nach Auffassung unserer Weisen jemand, der entschlossen ist, eine unmoralische Tat zu begehen, dies wenigstens in völliger Geheimhaltung tun.
Unsere Tradition erinnert uns daran, daß es nicht genug ist, zu fragen, was Menschen wollen, wir müssen auch in Betracht ziehen, was Menschen sind. Die Entwicklung des Charakters braucht im Privaten wie im Öffentlichen den Schutz der Sittsamkeit. Sie kann nicht im Scheinwerferlicht der Überwachung vonstatten gehen, wie unauffällig sie auch immer ist.
Wir sollten dafür eintreten, diese humanistischen und spirituellen Dimensionen in die Debatte über den Schutz der Privatsphäre im Internet mit einzubringen.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des »Business Ethics Center of Jerusalem«
www.besr.org