von Michael Brocke
Und nun das »Prekariat«. Noch ebenso unscharf wie »Unterschicht« will der Begriff eine neue Situation treffen. Mit prekärer, Tag um Tag unsicherer Existenz hat das jüdische Volk über Zeiten und Zonen Erfahrung. Als »Luftmensch« zu leben, war nicht gerade die Ausnahme. Was bietet es auf dagegen? Netzwerke zur Selbsthilfe, Mobilität zum Erwerb von Wissen und Bildung; Ansprüche an sich selbst und Fähigkeiten, die weder von heute auf morgen erworben sind noch schnell verlorengehen. Sie werden überliefert. »Empfangen und Weitergeben«, »Lernen und Lehren« – das ist das Vermögen, mit dem das Judentum großzügig umgeht, sein Leben stabilisiert. Hinter diesen Überlebensstrategien steht felsenfestes Vertrauen auf die Polarität von Gott und Mensch, das Bauen auf Gerechtigkeit und Güte desjenigen, der einst befreit hat und stets aufs Neue befreit. Was aus dieser Bindung folgt, bleibt der entscheidende Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Resignation: das Dringen auf Erkenntnis, auf die allen aufgegebene, allen zu ermöglichende Bildung.
Als Leo Baeck die »Wohlfahrtspflege« als Sache des Staates und nicht länger Sache von »Einzelgruppen« einforderte, setzte er entschieden hinzu, daß das große Ganze, der Staat, auf die Eigenart der religiösen und weltanschaulichen Einzelgruppen nicht verzichten kann. Der Staat ist ohne dauernden Standpunkt und ohne end- gültiges Ziel. Im Religiösen aber liegt die Kraft der Stetigkeit, das Bewußtsein der Aufgabe, die zur Politik hinzutritt und über sie hinaus Wesentliches und Wertvolles zu geben hat. Diese Sinngebung hat, bei aller Verschiedenheit von Religionen und Weltanschauungen, auch die Fähigkeit, den Standpunkt der anderen zu verstehen und gemeinsame Wege zu gehen. Zudem hat jede Einzelgruppe ihren »Stil«: Sie hat ihre eigene Darstellungsweise, ihre besondere Ausdrucksform.
Was hat jüdischer Stil heute dem großen Ganzen zu sagen, das anschwellende Armut eindämmen will? Er erinnert an die Grundforderung sozialer Gerechtigkeit, indem er ein weit ernsthafteres Einklagen von Gerechtigkeit verlangt, eine breitere und kräftigere fördernde Gerechtigkeit. Und Güte – für die Ärmeren mehr als für alle anderen.
Jüdischer Stil im Kampf gegen Lähmung und Resignation will Wissensdurst und Erkenntnishunger wiederbeleben oder überhaupt erst wecken: »die Buchstaben mit Honig essen lassen« und »die Kinder zur Schule tragen«. Bildung jüdisch – das heißt weitergeben: »Und erzähle du es deinem Kinde.« Bildung jüdisch – das heißt fragen: »Wie ist dies anders als…« Bildung jüdisch – das heißt prüfen: »Wende sie, die Lehre, wende sie um und um, denn alles ist in ihr.« Bildung jüdisch – das heißt, kreativ werden: »Und suche den Gefährten, der mit dir lernt.« Das lebenslange Lernen auch der Geschäftigen und Abgehetzten, der von Existenzsorge Geplagten, ihr Wunsch, dem Lernen feste Zeiten zu setzen – das bleibt das Ideal.
Bildung ist nicht nur Wissen. Wissen ist nicht nur zweckorientiert. Bildung motiviert. Sie ist das »Wie«; Wissen schlägt die Schneise für den Weg in die Welt, es ist das »Was«. Bildung macht stark. Wissen will auch um seiner selbst willen gemehrt werden. Das Verhältnis von zweckbestimmtem und nutzlos erscheinendem Wissen ist völlig aus der Balance geraten.
Die alte Zuversicht, mittels »Weiterbildung« aus dem Teufelskreis Armut und Resignation auszubrechen, wurzelt tief. Aufstieg aus äußerer und innerer Ghettoisierung verdankt sich auch der Befreiung durch das unnachgiebige Drehen und Wenden aller Fragen des Umgangs, sei’s mit Gott, sei’s mit Menschen. Judentum hat neben allen praktischen Notwendigkeiten stets den Wert des Tuns und Lernens »aus Liebe« hochgehalten: Lernen und Lehren nicht fürs Prestige, sondern gratis. Ein Ideal, allen offen, von vielen zu üben. Gerade weil der Gefahr des Abgehängtwerdens nur mit der zu weckenden Lust an Wissen zu begegnen ist. Wie sonst können wir der totalitären Verzweckung des Lebens durch die Ökonomisierung von allem und jedem entgehen? Etwa durch den passiven, lähmenden Konsum, durch den »Elite« und »Unterschicht« nur noch weiter auseinanderdriften?
»Wenn dein Bruder neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, nimm dich seiner an wie des Fremdlings oder Beisassen, daß er neben dir leben kann« (3. Buch Moses 25,35). Das ist dein Gefährte, mit dem du lernst.
Der Autor ist Judaist und Direktor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.