von David Witzthum
60 Jahre nach der Gründung des Staates hat sich die Medienlandschaft in Israel gegenüber seinen Anfängen stark verändert. Sie reagiert auf ein vollkommen anderes Gesicht der israelischen Gesellschaft, Kultur und Politik. In den vergangenen sechs Jahrzehnten haben die israelischen Medien drei historische Phasen durchlaufen: den ideologischen, europäischen und parteiischen Journalismus, die Epoche staatlicher Vorherrschaft und Kontrolle und schließlich die Entstehung »sektoraler« Medien. In ihnen spiegeln sich die verschiedenen ethnischen, kulturellen, religiösen, nationalen und sozialen »Stämme« der israelischen Gesellschaft wider. Im Gegensatz zu den Anfangsjahren haben wir es heute mit anderen, anspruchsvollen Zuschauern, Hörer und Lesern zu tun, die zu den pluralistischsten und produktivsten Medienkonsumenten der Welt zählen.
Das führte die israelischen Medien und die Demokratie gleichzeitig in ein Dilemma. Als 2006 der zweite Libanonkrieg begann, standen die Medien Israels an einem Kreuzweg: Wie sollten sie sich entscheiden? Für die traditionell loyale Berichterstattung zum Regierungs-Establishment in Kriegszeiten? Oder sollten sie sich in ihrer neuen Position als Teil der florierenden unabhängigen kommerziellen privaten Kultur- und Unterhaltungsindustrie behaupten? Patriotische Zustimmung wäre, oberflächlich betrachtet, eine populäre und pro fitable Option gewesen. Sie hätte den Medien einen Platz innerhalb des Establishments verschafft und ihnen höhere Einschaltquoten beziehungsweise mehr Leser beschert. Doch damit so etwas gelingen konnte, hätte die israelische Armee potenzieller Gewinner des Konflikts sein müssen. Und die Führer der Nation hätten als entscheidungsfreudig und besonnen wahrgenommen werden müssen. Mit anderen Worten: Hätte man ihnen ein »Happy-end« versprochen, wären die Medien mit dem politischen Establishment konform gegangen. Beim Rückzug der israelischen Truppen aus Gasa 2005 wählten die Medien diese Variante: Der Rückzug wurde ein emo tionales, bewegendes und friedliches »Medienereignis«. In der Zeit davor riefen sie in quälend langen Sendungen zu Solidarität und Mitgefühl auf. In den Jahren der zweiten Intifada seit Oktober 2000 beherrschten schockierende Nachrichten über den mörderischen Terrorismus in den Städten Israels, in Bussen, Cafés, auf Märkten, in Hotels und Einkaufszentren die Meldungen.
In jenen Jahren erwiesen sich die israelischen Medien, insbesondere die Berichterstattung im Fernsehen, als verantwortungsbewusst und sensibel. Sie wurden zu einem wichtigen gesellschaftlichen Schutzschild sowohl gegen die Bedrohung des Terrorismus als auch gegen den potenziellen Zerfall Israels im Inneren. Die Medien stellten den öffentlichen Raum zur Verfügung, um Gesundung und Trost zu ermöglichen und Zeichen der Solidarität mit den Opfern zu setzen. Sie einten die Gesellschaft und stärkten die Hoffnung.
Doch während des Libanonkrieges 2006 kam die Wende. Es fehlten Ministerpräsident Ariel Sharon als vertrauenswürdiger Führer und der moralische Zorn, der Regierung und Bürger hätte einen können. Stattdessen verbreiteten die mächtigen und modernen israelischen Medien schlechte Nachrichten über das politische und militärische Establishment, das mit einem Mal schwach, müde, gespalten und unentschieden wirkte. So verwandelte sich die bedingungslose Unterstützung der Medien für den Libanonkrieg rasch in bissige Kritik.
Ähnlich wie bei der Berichterstattung der US-Medien über den Irakkrieg, bildeten die Medien – anfangs ein Sprachrohr für Regierung und Armee – plötzlich eine Plattform für eine äußerst kritische öffentliche Debatte. Aber genau wie in den Vereinigten Staaten hat die Regierung das überlebt und führt ihr komplexes Zwiegespräch mit den Medien fort.
Heute ist die Medienlandschaft in Israel bunter und mächtiger denn je. Sie setzt sich aus vier wichtigen Bereiche zusammen: den Massenmedien, den lokalen, den sektoralen und den neuen Medien. Am bedeutsamsten sind die Massenmedien mit den großen Tageszeitungen Yediot Ahronot, Maariv und dem traditionell linksliberalen Blatt Haaretz, diversen Kultur- und Wirtschaftsmagazinen, den staatlichen Fernsehsendern, zu denen ein Bildungssender gehört und zwei private und kommerzielle sowie zahlreiche Kabel- und Satellitensender. Der staatliche Rundfunk »Kol Israel« ist feiert dieses Jahr seinen 70sten Geburtstag und bietet Nachrichten und Talk, Unterhaltung, klassische Musik und einen Auslandsdienst.
Zum zweiten Bereich gehören die lokalen Medien wie Zeitungen, Kabelfernsehen und Internet, die alle in den 90er-Jahren an den Start gingen. Neben Kol Israel betreibt die Armee einen jungen, frischen Sender mit leichtem Unterhaltungston. Daneben gibt es hunderte lokale und Musiksender – einige von ihnen sind illegal. Sie verleihen der israelischen Peripherie eine Stimme – im Norden und im Süden von Tel Aviv, das wiederum seine eigene Version eines lokalen Journalismus nach amerikanischem Vorbild entwickelt hat.
Die Popularität der lokalen Medien nimmt bereits wieder ab, während die Medien des dritten Bereichs – sektorale Medien – an Einfluss gewinnen. In ihnen spiegelt sich sehr genau der Zerfall der israelischen Gesellschaft und Kultur in verschiedene »Stämme« und Untergruppen. Die wichtigsten sind mit etwa 20 Prozent der israelischen Gesellschaft die Araber. Hunderte von arabischen Satelliten- sendern, Al-Dschasira, Al-Arabia und viele mehr, Zeitungen, Radiosender und das Internet spiegeln ihre eigene Sprache, ihre Religionen (hauptsächlich Muslime, Drusen und Christen), eigene Traditionen, ihr Bildungswesen, Loyalitäten und politische Parteien wider. Mit 15 Prozent bildet das russisch-jüdische Segment einen medialen Faktor. Etwa 60 Zeitungen und Zeitschriften, russisches Fernsehen über Kabel und auch über einen Fernsehsender bedienen russischsprachige Leser und Hörer innerhalb Israels. Wichtige Gruppen sind auch die ultraorthodoxen Bewohner mit etwa 8 Prozent sowie die orientalisch-sefardische religiöse Bewegung wie Schasbefürworter mit rund 11 Prozent. Hinzu kommt die Gruppe der nationalreligiösen Juden. Einschließlich der Siedler im Westjordanland machen sie etwa 6 bis 8 Prozent der Bevölkerung aus und wollen ebenfalls ihre eigene Kultur, ihr separates Bildungswesen und eigene politische Parteien in den sektoralen Medien wiedergegeben wissen.
Alle diese Gruppen distanzieren sich von den Mainstream-Israelis, zu denen die meisten zionistischen säkularen oder traditionellen Juden gehören. Zahlenmäßig inzwischen zwar in der Minderheit, sind diese sozial, kulturell und wirtschaftlich immer noch der »Stamm«, der die wichtigsten staatlichen Institutionen und die Massenmedien dominiert. Dies wirkt sich wiederum auf die Untergruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft und Politik aus.
Der vierte Bereich, die neuen Medien boomen. Wenn es um Hightech, um Internetanschlüsse und -nutzung geht, steht Israel weltweit an der Spitze: 2007 hatten 65 Prozent aller Israelis eine DSL-, Kabel- oder ADSL-Internetverbindung. Zum Vergleich dazu sind es in Europa und in den Vereinigten Staaten weniger als 30 Prozent. Bei Mobiltelefonen belegt Israel laut einer Untersuchung von 2004 weltweit den zweiten Platz nach Luxemburg. Sämtliche Zeitungen, Rundfunksender und Fernsehsender haben ihre eigenen Internet-Websites, ebenso wie Tausende Bürger. Blogs, Magazine, Foren und Suchmaschinen kommunizieren und werben auf Hebräisch, Englisch und in einem Dutzend weiterer Sprachen – von Russisch und Deutsch bis hin zu Arabisch, Amharisch und Farsi.
Hier haben wir den Kern des israelischen Paradoxons: die Ausstattung der Medien, ihre Technologie, ihr Programm und ihr Spektrum ist vom Allerfeinsten und vielfältig. Und doch befindet sich der Staat in einem uralten, geradezu archaischen und blutigen Konflikt, gegen den Vernunft und Einsicht offenbar nichts ausrichten können. Deshalb ist das Leben in Israel oft so tragisch und zum Verzweifeln, gleichzeitig aber so kompliziert, einzigartig und faszinierend.
Der Autor ist Moderator und Chefredakteur des Ersten Israelischen Fernsehens sowie Dozent für Politikwissenschaften und Kommunikation in Tel Aviv und Jerusalem.