von Yair Goldreich
Eine der Mizwot in diesem mit Geboten reich versehenen Wochenabschnitt ist die Anweisung: »Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer um dein Dach und lasse kein Blut kommen auf dein Haus, wenn jemand davon herabfiele«
(5. Buch Moses 22,8). Die vorgeschriebene Höhe für eine solche Brüstung beträgt 10 Handbreit (etwa 100 Zentimeter).
Aus der Tora erfahren wir, dass dieses Gebot nicht nur für neu gebaute Häuser, sondern auch auf schon länger existierende Häuser, die ein Mensch etwa erworben oder geerbt hat, gilt, da die Gefahr des Herunterfallens dort ebenso besteht.
Auch Getreidespeicher, Scheunen und Lagerhäuser müssen ein Geländer haben. Doch nicht alle Gebäude: Ein Haus, das kleiner als 4 x 4 Ellen (1,28 x 1,28 Meter) ist, ist von der Forderung einer Mesusa und eines Dachgeländers befreit. Aus welchem Grund? Es heißt »Haus« in dem Gebot; und ein Dach über einer so kleinen Fläche gilt nicht als eines, das ein »Haus bedeckt.
Auch ein Gebäude, das niedriger ist als 10 Handbreit, ist von der Forderung nach einer Brüstung befreit, weil es nicht als »Haus« angesehen wird.
Zudem sind Synagogen und Lernhäuser ausgenommen. Doch leuchtet es nicht unmittelbar ein, warum die Gefahr, vom Dach einer Synagoge zu fallen, geringer sein sollte als die Gefahr, von einem Hausdach zu fallen.
Verständlich wird diese Halacha, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Dächer genutzt wurden. Sehen wir uns zu diesem Zweck die Regeln für den Bau einer Synagoge näher an. Wir erfahren, dass das Dach einer Synagoge höher als das anderer Gebäude sein muss.
Im Talmud ist von Rabba bar Mahasya zu lesen, der wiederum Rav Hama bar Giora zitierte: »Jede Stadt, deren Dächer höher sind als das Dach ihrer Synagoge, ist dazu bestimmt, zerstört zu werden, denn es steht geschrieben: ›So dass wir das Haus unseres Gottes wieder aufbauen und es aus den Trümmern wieder aufrichten konnten‹ (Esra 9,9). Dies gilt für Häuser und nicht für Türme, die um des Schmuckes willen gebaut wurden und nicht bewohnt sind« (Schabbat 11a).
Die Tossafot vermerken, dass die ge-
nannten Türme nicht als Wohnorte vorgesehen waren. Ihre Dächer taugten nicht dafür, so genutzt zu werden, wie Hausbewohner in der Zeit des Talmuds ihre Dächer normalerweise nutzten. Daher ist es auch heute nicht notwendig, dass das Synagogendach höher ist als andere Dächer, wenn diese auf bloß dekorativen Türmen sitzen.
Auch der Sefer Mordechai diskutiert die Bedeutung von Dächern und zitiert Moses ben Jacob von Coucy (Semag): »Vor allem zu ihrer Zeit«, als es Brauch war, sich auf der Dachterrasse aufzuhalten, musste das Dach der Synagoge höher sein als die anderen Dächer; doch dort, wo die Dächer der Häuser nicht genutzt wurden, stand dieses Problem nicht zur Debatte.
Diesen Autoritäten folgend, urteilte der Schulchan Aruch: »Synagogen sollen im Verhältnis zur Höhe der Gebäude in der Stadt gebaut werden, und sie sollen weiter in die Höhe gebaut werden, bis sie höher sind als alle anderen Häuser in der Stadt, deren Dächer genutzt werden; ausgenommen sind Zitadellen und Türme, deren Dächer nicht genutzt werden. Im Falle eines Dachs, das schräg und für einen Aufenthalt ungeeignet ist, wird die Höhe, bis zu der es betreten werden kann, geschätzt; das heißt, wenn es einen Dachboden hat, darf der Dachboden nicht höher als das Dach der Synagoge sein.«
In der Tora Temima wird bereits angemerkt, dass es in Europa, wo die Häuser schräge, für den Gebrauch nicht geeignete Dächer hatten, nicht nötig war, ein Geländer zu errichten. Im Gegensatz dazu waren die Dächer im Land Israel im Allgemeinen flach und wurden ausgiebig ge-
nutzt.
Daher lernen wir, dass das Dach der Synagoge höher sein musste als andere Dächer, auf denen sich Menschen aufhielten oder die dafür geeignet waren.
Um zu verstehen, auf welche Weise die Dächer genutzt wurden, brauchen wir nicht in die Zeit des Talmuds zurückzugehen. Zwar werden im jüdischen Israel Dächer im Allgemeinen nicht mehr so wie in der Vergangenheit genutzt, doch in arabischen Dörfern sieht das Verweilen auf der Dachterrasse noch ziemlich genauso aus wie in talmudischer Zeit.
Oft sind die Häuser in einem arabischen Dorf an einem Hang gebaut, sodass das Dach des einen Hauses als Eingangsebene für das Haus darüber dient. An schwülen Sommertagen oder in den Jahreszeiten des Übergangs, Frühling und Herbst, wo an vielen Tagen ein heißer, trockener Wind weht, dienen die Dächer der Häuser in arabischen Dörfern als Schlafplatz für die Familie. Im Schlaf ist die Gefahr, von einem geländerlosen Dach zu fallen, natürlich noch größer. Im Gegensatz dazu wird das Dach der Synagoge nicht zum Schlafen gebraucht.
Deshalb ist ein Dach, das nicht größer als 4 x 4 Ellen ist, von der Geländerpflicht befreit; es ist nicht groß genug, dass eine Familie darauf schlafen könnte. Das Gleiche gilt für Bauten, die niedriger als zehn Handbreit sind, auf denen zu schlafen wegen der Gefahr eines unerwünschten Besuchs von Zwei- oder Vierbeinern nicht sicher wäre.
Der Autor ist Professor an der Abteilung für Geografie und Umweltstudien der Universität Bar-Ilan, Ramat-Gan, Israel
www.biu.ac.il
Ki Teze: 5. Buch Moses 21,10 bis 25,19