Mit etwas ungelenker Hand ist es in die Fensterscheibe eingeritzt: »S. Ullmann«. Und es erscheint wie ein kleines Wunder, dass dieses Fensterglas den Lauf der Zeit überstanden hat und heute als das vielleicht anrührendste Ausstellungsstück im gerade eröffneten »LVR-Kulturhaus Land-
synagoge Rödingen« nahe Jülich zu sehen ist. Hinter der Bezeichnung verbirgt sich ein Gebäudeensemble aus ehemaliger Synagoge und dem Wohnhaus des Gemeindevorstehers. Hier lebte bis 1934 als letzte jüdische Bewohnerin Sibilla Ullmann.
Sibillas Vater hatte 1841 für die jüdische Gemeinde in und um Rödingen eine kleine Synagoge erbaut. Sie steht im Hof, hinter dem Haus, in dem Gemeindevorsteher Isa-
ac Ullmann und seine Familie lebten. Als ihr Elternhaus und die Synagoge verkauft werden mussten, zog »Tante Billchen« in ein jüdisches Altenheim nach Mönchen-
gladbach-Rheydt. Bevor sie das Haus verließ, ritzte sie ihren Namen in das Fenster.
Im Alter von 82 Jahren wurde sie mit einem Sammeltransport von Düsseldorf nach Theresienstadt deportiert, wo sie nach wenigen Monaten verhungerte. Im Zuge ihrer Recherchen machten LVR-Mitarbeiter noch drei Familienmitglieder der Ullmanns ausfindig und eines konnte bei der Eröffnung dabei sein.
Die neuen Bewohner des Vorsteherhauses, eine Schaustellerfamilie, nutzten die Synagoge als Abstellraum und Werkstatt. Als der Landschaftsverband Rheinland (LVR) 1999 das Gebäude kaufte, übernahm er ein Ensemble, das sich weitgehend im Originalzustand erhalten hatte. »Ein fast einzigartiger Glücksfall«, sagt LVR-Projektleiterin Monika Grübel. »Der Schausteller war etwas lethargisch«, sagte Grübel. Er habe kaum etwas verändert. Fenster, Türen, Fußböden und Wandverkleidungen blieben im Original erhalten. »Kleine Landsynagogen waren zwar sehr typisch für das Rheinland, doch sind die allermeis-
ten zerstört, verfallen oder wurden bis zur bis zur Unkenntlichkeit umgenutzt.«
Beide Gebäude wurden behutsam res-
tauriert, die Spuren ihrer Geschichte sorgfältig bewahrt und als eigene Exponate in die Ausstellung im Vorsteherhaus integriert. Eine Dauerausstellung thematisiert die koschere Küche, die jüdische Religion und das rheinische Judentum. So entstand eine moderne Präsentation, die mit Objekten, Videostationen und Audios exemplarisch die Geschichte der Familie Ullmann ebenso erzählt wie die der rheinischen Landjuden. Das ist umso spannender, da das »Landjudentum« ein immer noch wenig bekanntes Stück jüdischer Geschichte ist – und das, obwohl der allergrößte Teil der Juden im Deutschen Reich nach Ausgang des Mittelalters nicht in den großen Städten, sondern auf dem Land lebte.
Eingebettet in die beiden Erzählstränge der Ausstellung findet der Besucher vieles zu jüdischer Religion, Kultur und Tradition. In der ehemaligen Synagoge dokumentieren Toranische, Frauenempore und die Schablonenmalerei an den Wänden fast 170 Jahre Religions-, Kultur- und Baugeschichte. Die ehemalige Synagoge knüpft nach fast 80 Jahren als Werkstatt und Baustelle ein wenig an ihre ursprüngliche Nutzung als Versammlungsstätte an: als Kultur- und Begegnungszentrum steht sie nun für Veranstaltungen zur Verfügung. Constanze Baumgart
niederrhein