von Hans-Ulrich Dillmann
Ungewohnte Bilder beim morgendlichen Dawnen in der Bet-El-Synagoge in Polanco los Morales, einem Vorort von Mexiko-Stadt. Rabbiner Marcelo Rittner, sein Kollege Leonel Levi und weitere zehn Männer tragen an diesem Morgen nicht nur Tefelin und Tallit, sondern sie haben ihren Mund zur Vorbeugung gegen die sogenannte Schweinegrippe mit einer weißen Mundmaske geschützt.
Das öffentliche Leben in dem mittelamerikanischen Land ist noch immer weitgehend lahmgelegt. Öffentliche Veranstaltungen werden abgesagt, die Schulen sind geschlossen, viele Behörden haben ihre Öffnungszeiten stark verkürzt. Nach offiziellen Angaben sind in Mexiko derzeit fast 200 an der Grippe erkrankt, 22 Menschen sind bisher an dem Virus gestorben.
Polanco los Morales liegt eine knappe Autostunde vom Zentrum der Hauptstadt entfernt. Hier befindet sich eine der größten jüdischen Gemeinden des Landes. Doch heute verliert sich ein Dutzend Männer in der Kleinen Synagoge, die rund 120 Beter fasst. Alle stehen weit entfernt von einander – eine Vorsichtsmaßnahme, um mögliche Ansteckungen zu verhindern.
»An Wochentagen kommen normalerweise zwei bis drei Dutzend Beter«, sagt Marcelo Rittner (62), der Rabbiner der konservativen Gemeinde, »derzeit halten wir nur dann Gottesdienst und garantieren einen Minjan, wenn jemand Kaddisch sagen muss«. Die Tora werde zwar noch zum Lesen aus dem Aron HaKodesch geholt, aber »wir tragen sie nicht durch die Synagoge. Wir machen alles, was in unserer Macht steht, um die Ansteckungsmöglichkeiten zu reduzieren«, sagt Rittner. Händeschütteln und Begrüßungsküsse sind im Moment tabu. Auch das morgendliche gemeinsame Frühstück nach dem Gottesdienst wurde gestrichen, ebenso der Kiddusch am Freitagabend. Unter normalen Umständen nehmen daran bis zu 600 Personen teil.
Alle Gemeindeveranstaltungen sind abgesagt, das Jugendzentrum und die Sportanlagen bleiben bis auf Weiteres geschlossen. »Alle in der Gemeinde haben mit großem Verständnis auf die Gesundheitsmaßnahmen reagiert«, sagt der Rabbiner.
Auch in anderen Städten wurde das Gemeindeleben heruntergefahren. »Eigentlich kommen am Schabbat immer 23 Beter, aber wir haben alles abgeblasen«, sagt Mel Bronstein aus Puerta Vallarta. Seit einigen Wochen ist Nebensaison in der Hafenstadt am Pazifik. Viele Juden wohnen nur im Winter hier, nach Pessach sind sie in ihre Heimatorte in den USA zurückgekehrt.
In den meisten Gemeinden sind derzeit nur die Hausmeister zu erreichen. »Wir haben bis auf Weiteres geschlossen«, heißt es fast unisono. Eine Ausnahme ist die Comunidad Israelita de Guadalajara im Westen des Landes. »Wir halten Gottesdienst«, sagt Abraham Amitay (34), der Rabbiner der modern-orthodoxen Gemeinde.
Der Gemeindevorstand habe den Betern eindringlich empfohlen, sich nicht mit Körperkontakt zu begrüßen und auch beim Gebet einen Mundschutz zu tragen, sagt Amitay. »Aber es steht jedem frei, und nicht alle richten sich danach.« Allerdings werden das Morgen- und Abendgebet nicht wie üblich in der kleinen, 90 Personen fassenden Synagoge abgehalten, sondern in der großen mit ihren 600 Betplätzen. »Alle stehen im Raum verteilt, und die Fenster sind weit geöffnet.«
Die meisten jüdischen Gemeinden befolgen, ebenso wie viele katholische und eine große Zahl evangelikaler Kirchen, die von der Regierung verordneten Epidemievorsichtsmaßnahmen. »Die Juden Mexikos unterstützen die Anordnungen der Regierung«, betont die Sprecherin des jüdischen Zentralverbandes, Renee Dayán (45). In einem Rundbrief habe das Comite Central den 26 Mitgliedsgemeinden Handlungsvorschläge für die Verhinderung einer Grippeinfektion unterbreitet und sie aufgefordert, entsprechend der staatlichen Anordnung die Gemeindeeinrichtungen zu schließen und alle angeordneten Maßnahmen umzusetzen. Rund 93 Prozent der Juden Mexikos gehören zu einer der Gemeinden, die im Zentralkomitee organisiert sind. Die Gemeinden haben an ihre Mitglieder kostenlos Mundmasken verteilt.
Seit fast zwei Wochen wird in den 19 jüdischen Schulen, die zum Teil zu den besten des Landes gehören, nicht mehr unterrichtet. Allein 16 davon gibt es in Mexiko-Stadt. Sie sind zwar privat, unterliegen aber der staatlichen Aufsicht.
In den vergangenen Tagen hat es Gerüchte gegeben, dass zwei Gemeindemitglieder an der gefährlichen Grippe erkrankt seien, darunter ein Kind. »Wir haben keine offizielle Bestätigung«, sagt Daján.
Während Synagogen und Schulen leer bleiben, verbuchen die koscheren Restaurants Tag für Tag Umsatzeinbußen. Die Regierung hatte nach der Entdeckung des Virus angeordnet, in Restaurants keine Speisen mehr zu servieren. Lediglich Lieferungen frei Haus sind erlaubt. Bedient wird auch, wer sein Essen selbst abholt.
»Das Abendgeschäft ist völlig eingebrochen«, beklagt sich David Levi, Inhaber des koscheren Restaurants »The Kitchen«. Sein Küchenpersonal und die Kellner, die jetzt lediglich in Styropor verpackte Menüs ausliefern, tragen Handschuhe und Mundschutz. »Sie müssen sich nach jedem Handgriff ihre Hände waschen«, sagt Levi, der durch die Grippeschutzverordnungen bereits ein paar Tausend Dollar verloren hat.
Doch nicht nur ihm geht es schlecht. Die ganze Branche leidet. Im Gaucho Grill Kosher House herrscht gähnende Leere. Bankett- und Gemeinschaftsessen seien abgesagt worden, lässt Inhaber Victor Romano durch seine Geschäftsführerin ausrichten.
Auch der Einzelhandel, dem die ersten Grippetage durch Vorratseinkäufe einen erhöhten Umsatz bescherten, klagt inzwischen über die wirtschaftlichen Folgen. Ein Mitarbeiter in einem Koscher-Supermarkt in der Hauptstadt sagt: »Wir hoffen, dass die Maßnahmen bald wieder aufgehoben werden.«